11.
Nun wusste die fromme Königin Serena1 genau,S. 453 welch blendender Glanz die heilige Melania vordem in dieser Welt umgab, und sie hatte schon erfahren von ihrem heldenhaften Tugendbeispiel, wie sie dem irdischen Prunk entsagt und ein frommes Leben begonnen hatte. Sie sehnte sich darum sehr nach ihrem Anblick, eingedenk des Wortes, das der Psalmensänger sagt: „Das ist die Wandlung von des Höchsten Hand“.2 Weil sie die Herrlichkeit der Welt völlig verachtete, sprach sie wiederholt den Wunsch aus, die Selige zu sehen. Da nun ihre Sklaven auf den Gütern um die Stadt sich empörten, sagte diese zu dem seligen Gatten: „Jetzt müssen wir doch zur Königin gehen: denn, erheben sich sogar die Haussklaven in der Nähe gegen uns, was werden dann die anderen tun, die weit hinweg in den Städten sind, in Spanien und Kampanien, in Sizilien und Afrika und Mauretanien, in Britannien und den übrigen Ländern?“ So sahen sich beide genötigt, um Gelegenheit zur Unterredung mit der frommen Königin zu bitten; durch Vermittlung heiliger Bischöfe ward sie gewährt. Nachdem ich es ungemein nützlich erachtet habe, von dieser Unterredung einiges zu berichten, was sie selber uns oft zur Erbauung mitgeteilt hat, will ich nun auch das Folgende niederschreiben, treulich der Wahrheit gemäss zum Nutzen der Leser. Trotzdem viele, wie sie sagte, behaupteten, sie müsse nach Sitte der römischen Senatorenfrauen bei dieser Begegnung das Haupt entblössen, blieb sie dennoch auf ihrem edlen Vorsatz bestehen und versicherte, sie wolle weder das Gewand wechseln [weil geschrieben steht: „Angezogen hab' ich mein Gewand: wie soll ich es ausziehen?“3] noch das Haupt entblössen4 [weil der Apostel sagt: „Es ziemt dem Weibe nicht, unverhüllten Hauptes zu beten5], sogar wenn ich all meinen Reichtum verlöre: denn besser ist es, ich übertrete kein Pünktlein der Schrift6 und handle gewissenhaft nach Gottes Willen, als wenn ich S. 454 die ganze Welt gewänne“.7 Denn ihr Kleid war das Gewand des Heiles8 und ihr ganzes Leben schien ihr ein Gebet;9 deshalb wollte sie nicht einmal eine Spanne Zeit das Haupt enthüllen, damit sie die Engel, die sie umgaben, nicht betrübe.10 Sie nahm kostbare Kleinodien und kristallene Vasen als Geschenke für die fromme Königin, auch sonstige Wertsachen, Ringe, Silber und seidne Gewänder, um sie den treuen Kammerdienern und Höflingen zu geben. Sie gingen also nach dem Palaste, wurden angemeldet und hineinbeschieden.
Serena, die Nichte des großen Theodosius (379-395), von diesem an Kindesstatt angenommen, darum gesetzlich die Schwester seiner beiden Söhne, des oströmischen Kaisers Arkadius und des weströmischen Honorius. Theodosius gab sie zur Gattin dem hochverdienten Heerführer Stilicho, den er sterbend als Reichsverweser für die noch minderjährigen Söhne bestellte. Stilicho und Serena vermählten ihre älteste Tochter Maria, nach deren Tode die jüngste, Termanzia, mit Honorius. Serena war also dessen „Schwester“ und Schwiegermutter zugleich. Melanias Audienz fällt wohl in die Zeit nach dem Tode Marias (404). Den Titel „Königin“ führten mehrfach die kaiserlichen und königlichen Prinzessinnen. (Vgl. Curtius, de rebus gestis Alexandri m. III, 11; IV 11-14. Gennadius, de scriptor. eccl. 52). Stilicho wurde (408) des Hochverrats angeschuldigt und zu Ravenna hingerichtet, bald danach Serena, angeblich aus dem gleichen Grund, erdrosselt. ↩
Ps 76,11. ↩
Hohl. 5,3. Die Heilige weigerte sich also, das oben (Kap. 8) erwähnte Gewand zu wechseln. ↩
Obwohl es die Hofsitte verlangte. ↩
Vgl. 1Kor 11,5. ↩
Mt 5,18; Lk 16,17. ↩
Mt 16,26. ↩
Jes 61,10. ↩
Eine geradezu klassische Stelle über die gute Meinung! ↩
Vgl. 1Kor 11,10. ↩
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