53.
Als wir aber in die Nähe Konstantinopels gelangten, der Christo treuergebenen Stadt, da wurde die Heilige von grosser Furcht befallen, weil sie die mächtige Kaiserstadt betreten sollte; sie war ja nur mehr an Einsamkeit und Abtötung gewöhnt. Wir besuchten die Kirche der heiligen Euphemia1 zu Chalcedon und diese ruhmreiche Blutzeugin gab der Heiligen gute Fahrt und frohe Zuversicht. So ging sie mutig im Herrn nach Konstantinopel hinein, wo sie Herr Lausos,2 der kaiserliche Kämmerer, aufnahm, wie es ihrem tugendhaften Wandel geziemte. Den Onkel traf sie krank durch Gottes Fügung. Als er sie mitten in seinem irdischen Glanz und Reichtum in ihrem armseligen Gewande sah, begann er heftig zu weinen und sagte zu meiner Wenigkeit: „Du weisst wohl nicht, Herr Priester, dass sie weichlicher denn alle von unserem Stamm erzogen ward und jetzt hat sie soviel Abtötung und Armut auf sich genommen.“ Die Selige benützte diesen Anlass und sagte: „Du siehst, mein Herr, ich habe Ruhm und Reichtum und alles Angenehme verachtet in diesem Leben um der S. 483 ewigen Güter willen, die der weise Schöpfer des Weltalls seinen getreuen Gläubigen schenken wird. Ich bitte dich deshalb, entsage dem, was vergeht, komm' zum Bade der Unsterblichkeit, damit du der ewigen Güter teilhaftig werdest! Entreisse dich den Schlingen der Teufel, die mit ihrem Anhange brennen werden im ewigen Feuer!“ Sobald er merkte, sie wolle sich in dieser Angelegenheit an die kaiserliche Familie wenden, geriet er in tiefe Bestürzung und sprach: „Ich bitte dich bei deiner Gottesfurcht, nimm mir nicht die Möglichkeit der freien Wahl, denn diesen ehrenvollen Vorzug gab uns Gott von Anbeginn. Ich will ja von Herzen gerne den Schmutz meiner vielen Sünden abwaschen; soll ich es aber tun in kaiserlichem Auftrag, so geschieht es ja gleichsam erzwungen und ich verliere den Lohn des freien Entschlusses.“ Doch sie fühlte sich gedrängt, die Sache durch sehr angesehene Männer dem hochheiligen Bischofe Proklus3 mitteilen zu lassen. Dieser kam zu Besuch und redete lange mit ihm in trefflicher Weise vom Heile. Der Kranke merkte wohl, dass der Erzbischof gekommen war auf Anstiften der Seligen, liess ihr aber sagen, als ob er nichts ahnte: „Hätten wir in Rom drei Männer von des Herrn Proklus Art, dann gäb' es dort überhaupt keine Heiden mehr.“
Diese Heilige, sehr gefeiert im Altertume, litt den Martertod zu Chalcedon um 304. In ihrer prächtigen Kirche wurde 451 das 4. allgemeine Konzil abgehalten. ↩
Lausos war ein hochadliger Mann, ausgezeichnet durch Frömmigkeit und Bildung. Ihm widmete Palladius sein „Leben der hl. Väter“. In seinem Palaste standen kostbare Schätze der heidnischen Hellenen, z.B. der olympische Zeus des Phidias. ↩
Proklus war seit 434 Patriarch von Konstantinopel, ein Gegner des Nestorius; er starb 446. ↩
