64.
Am nächsten Tage begaben wir uns in die Kirche des heiligen Erzmärtyrers Stephanus, denn es war das Gedächtnis seines Entschlafens. Wir wohnten dem Gottesdienste bei und gingen sodann in das Kloster zurück. Während der Nachtwache lasen ich und drei Schwestern, zuletzt sie selber aus der Apostelgeschichte den Tod des heiligen Stephanus. Nachdem sie den Abschnitt vollendet hatte, sagten alle Schwestern zu der Heiligen: „Mögest du gesund bleiben und noch viele Jahre die Gedächtnistage der Heiligen feiern!“ Sie gab zur Antwort, als hätte sie von oben die Gewissheit: „Mögt auch ihr gesund sein! Mich aber hört ihr nicht mehr lesen.“ Da wurden alle vom tiefsten Schmerz bewegt, denn sie merkten wohl, sie wisse das Gesagte durch Offenbarung. Und als ginge sie jetzt schon zum Herrn hinweg aus dieser Welt, gab sie den Schwestern sofort ihr geistliches Testament in den Worten: „Ich bitte, feiert den Gottesdienst auch nach meinem Hingange mit Ehrfurcht und scheuet keine Nachtwache, S. 493 denn es steht geschrieben: 'Verflucht sei wer das Werk des Herrn nachlässig verrichtet!'1 Mag ich in Bälde von euch getrennt und dem Fleische nach nimmer in eurer Mitte sein, dann ist doch der ewige, alles erfüllende Gott mit euch und kennt die Herzenstiefen einer jeden. Das haltet allezeit vor Augen und bewahret eure Seelen in Reinheit und Liebe bis an das Ende, denn ihr wisset, dass wir alle vor seinem furchtbaren Richterstuhl erscheinen2 werden und jede dann den Lohn der Mühen empfangen soll oder für die Sünden die Verdammnis.“ Während alle laut zu klagen begannen, dass sie nun eine so treffliche Leiterin und vom Geiste Gottes erfüllte Lehrerin verlieren sollten, wandte sich die Selige zu meiner Wenigkeit und sagte: „Gehen wir in die Kirche des Männerklosters zum Gebet, denn es ruhen auch dort Reliquien des heiligen Stephanus!“ Tiefergriffen kam ich dem Wunsche der Seligen nach und ging mit ihr in die Kirche. Da fing sie weinend zu beten an, als sei sie schon mitten im Kreise der heiligen Märtyrer: „Herr“, so flehte sie, „Herr, Du Gott der heiligen Märtyrer, der alles kennt, bevor es in das Dasein tritt, Du weisst, worauf mein Sinn gerichtet war von Anbeginn. Du weisst, ich liebte Dich von ganzem Herzen und es hat mein Fleisch in Deiner Furcht geklebt an dem Gebeine.3 Du hast mich aus dem Mutterschoss gebildet und Dir weiht' ich meinen Geist und meinen Leib. Du hast meine rechte Hand ergriffen und mich geführt nach Deinem Willen.4 Doch in Menschenweise fehlt' ich oft im Wort und Werk vor Dir, dem einzig Reinen, Sündelosen. Nimm jetzt mein Flehen gnädig auf, das ich weinend sende vor Dein Angesicht durch Deine sieggekrönten Heiligen und läutere Deine Magd, dass meine Seele frei von jeder Fessel Dir entgegengehe, dass nicht die bösen Geister dieses Luftgebiets5 mich hemmen, sondern dass ich makellos von deinen heiligen Engeln geleitet zu Dir im himmlischen Hause gelangen und Deine S. 494 benedeite Stimme hören darf, womit Du dann zu denen, die Dir wohlgefallen, sagen wirst: 'Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmet in Besitz das Reich, das euch bereitet ist seit Grundlegung der Welt!'6 Du hegst ja unaussprechliches Erbarmen und Mitleid ohne Mass und rettest alle, die hoffen auf Dich“.7 Dann bat sie die heiligen Märtyrer mit den Worten: „Ihr Helden des Herrn, die das kostbare Blut vergossen, ihn zu bekennen, habt Erbarmen um mich, eure niedrige Magd, die eure heiligen Überreste stets in Ehren hielt! Ihr habt mich allezeit erhört; bittet jetzt den barmherzigen Gott, bei dem ihr grossen Einfluss übet, er möge meine Seele nun aufnehmen in Frieden und die Klöster fort und fort in seiner Furcht bewahren!“ Noch ehe sie das Gebet vollendet hatte, befiel sie das Fieber. Als wir in das Jungfrauenkloster zurückkamen, waren die Schwestern gerade beim Psalmengesang. Ich fühlte mich von innerem Schmerze gänzlich erschöpft, so dass ich nahe daran war niederzustürzen; ich zog mich deshalb zurück um ein wenig auszuruhen. Aber die Selige ging zu den Schwestern und beteiligte sich am Chorgebete. Sobald sie merkten, dass sie krank sei, baten sie: „Raste doch ein wenig, du kannst ja nicht mehr stehen.“ Allein sie wollte nicht und gab zur Antwort: „Lasset uns erst die Morgenpsalmen zu Ende beten!“ Nachdem der ganze Gottesdienst vorbei war, ging sie fort und legte sich nieder. Sie bekam sehr heftiges Seitenstechen und erkrankte schwer. Da liess sie die Schwestern alle holen und sagte zu mir: „Siehe, nun geh' ich zum Herrn. Bete für mich!“ Da bohrte sich der Kummer tief in mein Herz.
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