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Um jene Zeit wurde sie von einer aus den Jungfrauen, die mit ihr zusammenlebten, befragt, ob sie mitten in soviel Abtötung und Tugend nie versucht sei vom Teufel der Eitelkeit und Hoffart. Da gab sie eine Antwort, die uns allen im höchsten Grad zur Erbauung diente; sie sagte nämlich: „Etwas Gutes zu besitzen bin ich mir in keiner Weise bewusst, und wenn ich jemals merkte, dass der Feind mir eitle Gedanken in die Seele säen wollte, so hab' ich ihm entgegnet: Wie sollte das etwas Grosses sein, wenn ich faste während der Woche, da doch viele vierzig Tage lang nicht essen? Und wenn ich kein Öl geniesse, während andere nicht einmal am Wasser sich satt trinken? Und wollte mich der Feind in seiner grenzenlosen Bosheit zur Überhebung reizen durch den Hinweis, dass ich arm geworden sei, so hab' ich voll Vertrauen auf die göttliche Macht ihm stets erwidert: Wieviele werden kriegsgefangen von Barbarenhand und verlieren sogar die Freiheit! Wieviele fallen in Ungnade bei den Königen und verlieren alles Eigentum, sogar das Leben! Wieviele stehen bettelarm in der Welt durch elterliche Schuld! Andere geraten in die Schlingen, die Verleumder und Räuber ihnen gestellt haben, und stürzen aus dem Reichtum über Nacht in bitterste Not. Darum ist es in der Tat nichts Grosses, irdische Güter wegzuwerfen um der unvergänglichen und ewigen willen. Und wenn ich wahrnahm, dass der Böse mir eitle Gedanken deshalb einflüstern wollte, weil ich vordem feinste Leinwand und Seide trug, jetzt dagegen rauhe Wolle, so kam ich mir ganz erbärmlich vor und ich musste denken, wieviele nackt und vor Kälte starr am Marktplatz auf Binsen kauern.1 So jagte Gott den Satan weg von mir.“ S. 491 Sie sagte, die Nachstellungen des Teufels seien sofort erkennbar; „doch haben mir oftmal Menschen, die man für Heilige hielt, grössere Hindernisse bereitet als der Widersacher. Weil sie sahen, dass ich im vollen Sinne das Wort des Herrn erfüllen wollte, das er zu dem Reichen sprach: 'Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe, was du besitzest, gib es den Armen und nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach',2 deshalb sagten sie zu mir: 'Armut und Abtötung üben aus Liebe zum Herrn soll man gewiss, aber mit Mass.' Ich dachte daran, wie jene, die sterblichen Gebietern dienen in dieser Welt, sogar ihr Leben auf das Spiel setzen, um höher zu steigen auf der Stufenleiter in Amt und Würde. Wenn aber jene wegen dieser Blume des Feldes (nichts anderes ist ja der irdische Ruhm) sich so bemühen, um wieviel mehr muss dann ich Opfer bringen um der himmlischen Herrlichkeit, die doch höher ist, teilhaftig zu werden!“ Soviel sei gesagt von allem, was sie den Seelen zu Nutz und Frommen an geistlicher Lehre bot! Sie besass eine solche Sanftmut und Ruhe, dass sie, wenn eine der Schwestern - was zuweilen vorkam - sie verletzt hatte und deshalb um Verzeihung bat, nur zu sagen pflegte: „Gott weiss, ich wage nicht, einem ehrbaren Weib in der Welt mich an die Seite zu stellen; aber ich hoffe, dass mich der Feind am Tage des Gerichtes nicht verklagen kann, ich hätte je mich schlafen gelegt mit Bitterkeit auf jemand im Herzen.“
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