12.
Die fromme Königin aber kam ihnen sogleich entgegen mit grosser Freude bis an den Eingang der Halle. Sobald sie die Selige sah in dem armen Gewande, wurde sie tiefbewegt. Sie nahm ihre Hand und nötigte sie Platz zu nehmen auf ihrem goldenen Throne. Dann rief sie alle Palastbewohner zusammen und sagte: "Kommet und sehet doch jene, die uns vor jetzo vier Jahren ein Gegenstand der staunenden Bewunderung war im höchsten Glanze der weltlichen Würde, wie sie nun alt ist an himmlischer Weisheit!1 Lasset uns lernen von ihr, wie der gottesfürchtige Geist erhaben ist über alles Angenehme, das der Leib verlangt! Denn sehet, sie hat verzichtet auf den Überfluss, der sie von Kindheit umgab, auf unermesslichen Reichtum, Würden und Ehren und jede Spur von allem, was ihr Dasein erquickte. Sie scheute nicht die Schwachheit des Fleisches noch Armut aus eigenem Willen noch irgend ein Ding, das uns andern bange macht; vielmehr bändigte sie die eigene Natur und überlieferte sich dem täglichen Tode2 und zeigte der ganzen Welt durch ihre Werke, dass an tugendhaftem Wandel vor den Augen Gottes das Weib dem Mann in keiner Weise nachsteht,3 wenn sie festhält am Entschlusse. Doch die wahre Magd des Herrn wurde nicht eitel, als sie das Lob S. 455 vernahm, sondern sie demütigte sich um so tiefer, je mehr sie von der Königin gepriesen wurde. So bestätigte sie den Ausspruch des Propheten: "Aller Menschenruhm ist gleich der Blume des Feldes."4 Die Königin aber umarmte und küsste sie auf die Augen5 und erzählte den Anwesenden, wieviel sie leiden mussten, um der Welt entsagen zu können, und welchen Widerstand der Vater ihnen entgegensetzte, der nicht einmal gestatten wollte, dass sie mit den Heiligen verkehrten und heilsame Worte vernähmen, wie sie die Wege Gottes wandeln könnten. Ihn hatte nämlich Satan trotz seiner Tugendhaftigkeit so verblendet, dass er unter dem Vorwand, Edles zu tun, eine schwere Sünde beging. Um nicht in Verdacht zu geraten, als ob er ihnen die Güter nehmen und andern Verwandten zuwenden wolle, gab er sich Mühe, sie zu hindern am himmlischen Wandel, wie schon erwähnt ist. Von neuem pries dann die Königin beide glücklich und sprach von der grossen Mühsal, die Severus, des Herrn Pinian Bruder, ihnen bereitet hatte, weil er willens war, das ungeheuere Vermögen an sich zu reissen, und wie jene Senatoren, die mit ihnen verwandt waren, insgesamt auf ihre Besitzungen es abgesehen hatten, sich zu bereichern. Und sie sagte zu ihnen: "Ich werde, wenn ihr wollt, den Severus bestrafen, so dass ihm die Lust vergeht, Leute zu plündern, die Gott ihr Leben geweiht haben." Doch die Seligen gaben der Königin zur Antwort: "Uns hat Christus befohlen Unrecht zu leiden, nicht Unrecht zu tun; uns auf die rechte Wange schlagen zu lassen und die linke darzubieten; mit dem, der uns eine Meile mitzugeben zwingt, eine zweite zu wandern und dem, der uns den Rock nimmt, auch den Mantel zu lassen.6 Es ziemt uns also nicht, Böses mit Bösem zu vergelten,7 zumal es Verwandte sind, die uns schädigen wollten. Wir hegen das feste Vertrauen zu S. 456 Christo,8 dass unser bescheidenes Vermögen mit seiner Hilfe dank dem Beistand unsrer frommen Königin gut verwendet wird." Die Königin erbaute sich sehr an diesen Worten und teilte die Sache sofort ihrem überaus frommen und christlichen Bruder mit, dem seligsten Kaiser Honorius, damit er in jede Provinz den Befehl ergehen lasse, die Statthalter und Beamten müssten bei Strafe den Verkauf ihrer Güter betreiben und ihnen wiederum bei Strafe den Erlös abliefern. Und so eilig und mit so grosser Freude tat dies der fromme Kaiser, dass ihnen, während sie noch dasassen, die Vollzugsbeamten zugewiesen und die Befehle mitgeteilt wurden.
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