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Nun aber hat der bei den Griechen bewunderte Pythische Gott keinen Weisen, überhaupt keinen Mann S. 646 für würdig der - wie die Griechen annehmen - göttlichen Eingebung erklärt, aber auch von dem weiblichen Geschlecht nicht eine Jungfrau oder eine weise und durch die Philosophie geförderte Frau, sondern irgendein gewöhnliches Weib. Denn die sittlich höherstehenden Menschen waren wohl zu gut, als dass er sich an diesen mit seiner Eingebung hätte betätigen können. Er hätte aber auch, wenn er wirklich ein Gott war, sein Vorherwissen sozusagen als Lockmittel benutzen müssen zur Bekehrung und Pflege und sittlichen Aufrichtung der Menschen; nun aber überliefert die Geschichte nichts dergleichen von ihm. Denn wenn er auch den Sokrates für den weisesten von allen Menschen erklärte, so schwächte er doch sein Lob ab, da er sich über Euripides und Sophokles in diesem Verse so äußerte:„Weise ist Sophokles, weiser aber Euripides.“ Wenn also Sokrates für besser gehalten wird, als die von dem Gotte „weise“ genannten Tragödiendichter, die auf der Bühne und auf der Orchestra eines beliebigen Kampfpreises wegen ihre Kunst zeigen und teils Schmerz und Mitleid, und teils unanständiges Gelächter - denn das ist der Zweck der Satyrdramen - bei den Zuschauern erregen, so erklärt dieses Urteil den Sokrates durchaus nicht wegen seiner Philosophie und Wahrheitsliebe für würdig und wegen dieser Würdigkeit für lobenswert. Und vielleicht hat der Gott den Sokrates nicht so sehr wegen seiner Liebe zur Weisheit für den weisesten aller Männer erklärt, sondern wegen der Opfer und des Fettdampfs, den er ihm und den übrigen Dämonen darbrachte Und aus diesem Grunde scheinen die Dämonen das, was die Opfernden von ihnen fordern, eher zu gewähren, als mit Rücksicht auf deren tugendhafte Werke. Daher kommt es, dass Homer, der trefflichste unter den Dichtern, indem er die Ereignisse beschreibt und die Mittel kennen lehrt, durch die vor allem die Dämonen veranlaßt werden, die Wünsche der Opfernden S. 647 zu erfüllen, den Chryses durch Darbringung einiger Kränze und Schenkelstücke von Stieren und Ziegen erlangen läßt, was er wegen seiner Tochter wider die Griechen erbeten hatte, dass sie nämlich durch die Pest gezwungen würden, ihm die Chryseis wieder zurückzugeben.
Ich erinnere mich in dem Buch eines pythagoreischen Philosophen, der über den geheimen und verborgenen Sinn der homerischen Gedichte geschrieben hat, die Bemerkung gelesen zu haben, das Gebet des Chryses zu Apollo und die Pest, die Apollo darauf über die Griechen sandte, lehrten, dass Homer von einigen bösen Dämonen wußte, die sich an Fettdampf und Opfern erfreuten und die Opfernden durch die Vernichtung ihrer Gegner belohnten, wenn die Opfernden solches erbaten. Auch „der über dem winterlichen Dodona waltende Gott“, bei dem „die auf der Erde mit ungewaschenen Füßen liegenden Propheten“ weilen, hat das männliche Geschlecht für den Prophetendienst verschmäht und bedient sich dazu „der Priesterinnen von Dodona“, wie auch Celsus bemerkte. Mag es nun aber einen ähnlichen Orakelspender „in Klaros“ und einen andern „bei den Branchiden“ und noch einen andern „im Ammontempel“ oder sonstwo auf Erden geben, woher soll denn der Nachweis geführt werden, dass diese Wesen Götter und nicht irgendwelche Dämonen sind?
