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Wenn wir nun dieses Beispiel verstanden haben, so müssen wir es auf die Beschaffenheit der geistigen Nahrung der mit Vernunft begabten Wesen anwenden. Man beachte, ob nicht Plato und die1 griechischen Weisen mit ihren schönen Aussprüchen jenen Ärzten ähnlich sind, die sich nur um Angehörige der gebildeten Stände bemühen, die große Masse der Menschen aber verachten, während dagegen die jüdischen Propheten und die Jünger Jesu, welche die kunstvolle Zusammenfügung der Worte und „die Menschenweisheit“S. 718 2 , wie die Schrift es nennt, und „die Weisheit nach dem Fleische“3 , womit sie die Sprache dunkel andeutet, weit von sich abweisen, wohl den Männern gleichen dürften, die dieselbe ganz gesunde Beschaffenheit der geistigen Speisen herzustellen und zu bereiten besorgt sind. Deshalb bedienen sie sich einer Redeweise, die der großen Masse der Menschen verständlich ist und nicht von deren Sprache abweicht und sie nicht durch ihre Fremdartigkeit davon abhält, solche Vorträge, da sie ihnen ungewohnt sind, anzuhören. Denn wenn wirklich die Aufgabe vorliegt, durch die geistige Speise - um sie so zu nennen - in dem, der sie genießt, Langmut und Sanftmut zu erzeugen: dürfte da nicht die Rede besser zubereitet sein, welche eine ganze Menge von langmütigen und sanftmütigen Menschen oder von solchen schafft, die in diesen Tugenden Fortschritte machen, als diejenige Rede, welche nur sehr wenige und leicht zu zählende Menschen - um auch dies zuzugeben - langmütig und sanftmütig gestaltet?
Wenn aber [Plato] als Grieche den Leuten, die nur ägyptisch oder syrisch sprechen, mit guten Lehren hätte nützen wollen, so hätte er wohl Vorsorge getroffen, die Sprachen seiner künftigen Hörer zu lernen und - wie die Griechen sagen - lieber barbarisch zu sprechen, um die Ägyptier und Syrer zu bessern, als in seiner Muttersprache zu reden und darauf verzichten zu müssen, den Ägyptiern und Syrern etwas Nützliches zu verkünden. Ebenso ließ sich die göttliche Natur, die nicht nur für die in griechischer Wissenschaft als unterrichtet geltenden Menschen, sondern auch für die übrigen Sorge trägt, zu der Unbildung der großen Masse der Hörer herab, um durch Gebrauch der ihnen gewohnten Ausdrücke die Masse der Ungebildeten zum Zuhören zu veranlassen. Denn diese können nach der einmal erfolgten Einführung leicht eine Ehre darein setzen, auch S. 719 die tieferen der in der Schrift verborgenen Gedanken zu erfassen. Ist es doch auch dem ersten besten Leser der Schrift klar, dass vieles darin einen tieferen Sinn haben kann, als der ist, der sich beim ersten Anblick zeigt. Jener tiefere Sinn wird aber nur denen offenbart, die sich der Erforschung des Wortes widmen und zwar offenbart entsprechend der auf das Wort verwandten Muße und dem bei diesem Studium gezeigten Eifer.
