20.
Wir wollen sehen, wie er weiter spricht. Er bemerkt: „ Jesus sagte dies als Gott voraus, und die Erfüllung seiner Weissagung war durchaus notwendig. Ein Gott also verführte seine eigenen Jünger und Propheten, mit denen er zusammen aß und trank, so weit, dass sie gottlos und verbrecherisch wurden; und es war doch seine höchste Pflicht, allen Menschen Gutes zu erweisen, ganz besonders aber seinen Tischgenossen. Der Tischgenosse eines Menschen würde wohl diesem nicht mehr nachgestellt haben[^114]; der S. 133 Tafelfreund Gottes aber sollte dessen Angreifer geworden sein? Und was noch widersinniger ist, der Gott selbst stellte seinen Tischgenossen nach, indem er sie zu Verrätern, und gottlosen Menschen machte“. Weil du wünschest, dass ich auch solchen Angriffen des Celsus entgegentrete, die mir ohne Gewicht zu sein scheinen, so wollen wir hierauf so erwidern. Celsus meint, es geschehe das, was einer infolge seines Vorauswissens verkündet, eben deshalb, weil es verkündet worden sei. Wir aber geben das nicht zu, sondern sagen: Der Weissagende ist nicht schuld an dem künftigen Ereignis, da er sein Eintreten vorausgesagt hat, sondern die künftige Tatsache, die eintreten würde, auch wenn sie nicht vorausverkündet worden wäre, hat den, der sie vorauswußte, veranlaßt, sie vorauszusagen. Und diese ganze Sache liegt in dem Vorauswissen dessen, der sie verkündet; es ist möglich, dass ein solches Ereignis eintritt, und möglich, dass es nicht eintritt; eine von diesen beiden Möglichkeiten aber wird sich verwirklichen. Wir behaupten nicht, dass der Vorauswissende die Möglichkeit des Geschehens oder Nichtgeschehens aufhebt und dann gleichsam eine solche Äußerung tut: Dies wird unter allen Umständen geschehen, und es ist unmöglich, dass es anders geschieht. Diese Bemerkung gilt von allem Vorauswissen, das sich auf Dinge bezieht, die von uns abhängen, mögen diese nun in den heiligen Schriften oder in den Geschichtswerken der Griechen zu lesen sein. Der Trugschluß, den die Rhetoren als „faulen Schluß“ bezeichnen, wäre also, wenn es auf Celsus ankäme, kein Trugschluß, ist es aber in den Augen jedes vernünftigen Menschen.
Um dies verständlich zu machen, will ich aus der Schrift die Prophezeiungen über Judas oder das Vorauswissen unseres Heilandes über ihn als den künftigen Verräter heranziehen, und aus den griechischen Geschichtsbüchern den Orakelspruch der dem Laios gegeben wurde, indem wir ihn hier als wahr gelten lassen, weil dies doch unsere Sache nicht berührt. Über Judas also werden im hundertachten Psalm dem Heilande S. 134 Worte in den Mund gelegt, deren Anfang so lautet: „O Gott, verschweige mein Lob nicht, weil der Mund des Sünders und der Mund des Arglistigen sich über mich aufgetan hat“1. Wenn du den Inhalt dieses Psalmverses genau erwägest, so wirst du finden, dass, wie Judas als künftiger Verräter des Heilandes vorher erkannt ist, so auch als schuldig an diesem Verrat, so dass er die Verwünschungen verdient, die in der Prophezeiung wegen seiner Bosheit über ihn ausgesprochen werden. Denn dies soll er erleiden, „weil er“, wie es heißt, „nicht gedachte, Barmherzigkeit zu üben, sondern einen Armen und Bedürftigen verfolgte“2. Es stand also in seiner Macht, „Barmherzigkeit zu üben“ und „die Verfolgung“ dessen zu unterlassen, den er verfolgte. Obwohl er es konnte, hat er es nicht getan, sondern vielmehr den Verrat begangen; er verdient somit die in der Prophezeiung gegen ihn ausgesprochenen Verwünschungen. Für die Griechen aber wollen wir den Orakelspruch anführen, der dem Laios gegeben wurde, wie ihn der Tragiker, sei es wörtlich oder nur sinngemäß, aufgezeichnet hat.
Der die künftigen Dinge vorauswissende Gott sagt also zu Laios: „Nicht streue Kindersaat den Göttern trotzend, aus! Denn zeugst du einen Sohn, so fällt dich seine Hand, Und durch ein Blutbad schreitest dann dein ganzes Haus.“3 In dieser Stelle also wird deutlich ausgesprochen, dass es für Laios möglich war, „Kindersaat nicht auszustreuen“; denn das Orakel hätte ihm doch nicht etwas Unmögliches anbefohlen. Möglich war aber auch „das Ausstreuen“, und zu keinem von beiden war er gezwungen. Hatte er sich aber nicht davor gehütet, „Kindersaat auszustreuen“, so folgt darauf für ihn, dass er wegen „des Ausstreuens“ erdulden mußte, was die Tragödie von Ödipus und Jokaste und ihren Söhnen berichtet.
S. 135 Betrachten wir nun den sogenannten „faulen Schluß“, der ein Trugschluß ist, so besteht er darin, dass man ihn zum Beispiel bei einem Kranken anwendet und diesen von seinem Vorhaben, zur Wiederherstellung seiner Gesundheit einen Arzt zu Rate zu ziehen, dadurch trügerisch zurückzuhalten sucht, dass man ihm sagt: „Ist dir Wiedergenesung von dieser Krankheit beschieden, so wirst du genesen, du magst den Arzt hinzuziehen oder auch nicht. Sollst du aber von der Krankheit nicht genesen, so wirst du nicht genesen, du magst nun den Arzt hinzuziehen oder nicht. Entweder ist dir Genesung von dieser Krankheit beschieden, oder sie ist es nicht: in jedem Falle also ziehst du den Arzt zwecklos hinzu.“ Diesem Schluß kann man den folgenden scherzhaft gegenüberstellen: „Ist dir Nachkommenschaft bestimmt, so wirst du sie erhalten, du magst nun einem Weibe beiwohnen oder nicht- Solltest du aber ohne Kinder bleiben, so werden dir keine geboren werden, du magst nun einem Weibe beiwohnen oder nicht. Entweder ist dir Nachkommenschaft bestimmt oder nicht: in jedem Falle also wohnst du einem Weibe zwecklos bei.“
Denn wie hier die Verbindung mit einem Weibe nicht zwecklos unternommen wird, weil ohne sie4 eine Nachkommenschaft ganz unerreichbar und unmöglich ist, ebenso ist die Beiziehung eines Arztes notwendig, wenn das Genesen von der Krankheit auf dem Wege der Heilkunst bewirkt werden soll; und darum ist dieser Schluß falsch: „in jedem Falle ziehst du den Arzt zwecklos hinzu“. All das anzuführen, haben uns die Worte des hochgelehrten Celsus veranlaßt: „Jesus sagte dies als Gott voraus, und die Erfüllung seiner Weissagung war durchaus notwendig.“ Ist das „notwendig“ bei ihm so viel als „unabwendbar“, so müssen wir ihm widersprechen; denn sie konnte auch nicht eintreten. Meint er aber „notwendig“ in dem Sinn: „es wird wirklich eintreten, was eben nicht gehindert ist, wirklich zu sein, auch wenn es möglich wäre, dass es sich nicht verwirklichte“,** so stört dies unsere Schlußfolgerung nicht. Denn wenn Jesus den Verrat S. 136 des einen und die Verleugnung des andern wahrhaft vorausgesagt hat, so folgt daraus mit nichten, dass er schuld an ihrer Gottlosigkeit und ruchlosen Handlung gewesen wäre. Denn Jesus, der nach unserm Glauben erkannte, „was in dem Menschen war“5, durchschaute den schlechten Charakter des Judas und sah, was er infolge seiner Geldgier und seines Schwankens in dem Urteil über seinen Meister wagen würde. Daher sprach er unter anderem auch dies Wort aus: „Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten“6.
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