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Celsus verstand es nicht, durch die von ihm geschaffene Person des Juden solche Anklagen in seiner S. 199 Schrift aussprechen zu lassen, wie sie nicht auch gegen diesen aus den Gesetzbüchern und Propheten vorgebracht werden könnten. Er erhebt nämlich gegen Jesus diese Beschuldigung: "Das Drohen und Schmähen fällt ihm leicht, wenn er sagt: 'Wehe euch!'1 und 'Ich sage euch voraus'2. Mit solchen Ausdrücken gesteht er offenbar zu, dass er unfähig war, zu überzeugen. So etwas erwartet man von keinem verständigen Menschen, geschweige denn von einem Gotte." Man urteile, ob dieser Vorwurf nicht offenbar auf den Juden selber zurückfällt! Denn im Gesetz und in den Propheten spricht Gott, sobald er redet, Drohungen und Verwünschungen aus, die an Strenge "den Weherufen" im Evangelium nicht nachstehen. So heißt es z.B. bei Jesaja: "Wehe euch, die ihr Haus an Haus reihet und Acker mit Acker verbindet"3, und: "Wehe euch, die ihr früh aufstehet und euch der Trunkenheit ergebet"4, und "Wehe euch, die ihr die Sünden wie mit großem Seile ziehet"5, und: "Wehe euch, die ihr das Böse gut, und das Gute bös nennet"6, und: "Wehe den Starken unter euch, die den Wein trinken!"7 Weitere Drohungen gleicher Art dürftest du unzählige finden. Ist nicht den Drohungen von denen der Jude spricht, diese ähnlich: "Wehe dem sündigen Volke, dem schwer mit Missetaten belasteten Volke, dem boshaften Geschlechte, den lasterhaften Söhnen"8 usw.? Diesen Worten fügt der Prophet derartige Drohungen hinzu, die nicht weniger scharf sind als jene, die Jesus nach seiner Angabe ausgesprochen hat.
Oder liegt nicht eine Drohung, und zwar eine schwere, in diesen Worten: "Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; eure S. 200 Gegend verzehren Fremde vor euren Augen, und sie ist verwüstet, unterjocht durch fremde Völker"?9 Und finden sich nicht Schmähungen des Volkes auch bei Ezechiel, wo der Herr zu dem Propheten spricht: "Du wohnest unter Skorpionen"?10 Hast du also, Celsus, mit richtigem Verständnis11 deinen Juden über Jesus diese Worte sprechen lassen: "Das Drohen und Schmähen fällt ihm leicht, wenn er sagt:'Wehe euch!' und `Ich sage euch voraus"? Siehst du nicht, dass die Beschuldigungen, die der Jude gegen Jesus12 vorbringt, ihm gegenüber wider Gott erhoben werden könnten? Denn nach der Ansicht13 des Juden trifft den Gott, der durch die Propheten redet, "offenbar" der gleiche Vorwurf, dass er zu überzeugen unfähig war".
Ferner möchte ich hierüber zu denjenigen, die die Vorwürfe des Juden bei Celsus gegen Jesus für gerechtfertigt halten, noch folgendes bemerken. Sehr viele Verwünschungen sind im Levitikus und Deuteronomium aufgezeichnet. Wenn der Jude nun diese, für die Schrift eintretend, verteidigen will, so werden wir ebensogut oder noch besser die Schmähungen und Drohungen verteidigen, die Jesus ausgesprochen haben soll. Und was das mosaische Gesetz selbst betrifft, so werden wir das besser verteidigen können, da wir von Jesus unterwiesen wurden, die Bücher des Gesetzes verständiger aufzufassen als der Jude. Aber auch der Jude wird, wenn er den Sinn der prophetischen Stelle erfaßt hat, der Ansicht beitreten können, dass Gott nicht "leichten Herzens droht und schmäht", wenn er sagt: Wehe euch!' und: 'Ich sage euch voraus
, und dass Gott solches wohl sagt, um die Menschen zu bekehren, was nach der Ansicht des Celsus "nicht einmal ein verständiger Mensch" aussprechen würde. Die Christen aber, die erkennen, dass S. 201 es ein und derselbe Gott ist, der durch die Propheten und durch den Herrn gewirkt hat14 werden die vernünftige Begründung der angeblichen "Drohungen" und der bei Celsus erwähnten "Schmähungen" geben können. Und da Celsus sich rühmt, ein Philosoph zu sein und unsere Lehre zu kennen15, so müssen wir ihm hier einige kurze Bemerkungen machen.
Mein Lieber, wenn Hermes bei Homer zu Odysseus sagt: "Warum gehst du allein, Unglücklicher, durch das Gebirge?"16 so gibst du dich zufrieden, wenn man dir zur Entschuldigung anführt, Hermes spreche bei Homer in dieser Weise zu Odysseus nur in der Absicht ihn zu warnen. Denn zu schmeicheln und Angenehmes zu sagen, das ist nur den Sirenen eigentümlich, "um die ein Knochenhaufe sich erhebt"17; diese gebrauchen die Worte: "Komm, du gepries'ner Odysseus, erhabener Ruhm der Achäer!"18 Wenn aber unsere Propheten und Jesus in der Absicht, die Zuhörer zu bekehren, das Wort "Wehe" gebrauchen oder andere Ausdrücke, die du als "Schmähungen" betrachtest, haben dann solche Reden keinen Nutzen für die Zuhörer, und wird eine solche Rede nicht als kräftiges Heilmittel bei ihnen angewendet? Oder meinst du, Gott oder wer an göttlicher Natur teilhat, habe nur seine eigene Natur und seine eigene Würde im Auge, wenn er mit den Menschen spricht, und er frage sich nicht, was er den Menschen, die er mit seinen Worten fördern und leiten will, zu verkündigen, und wie er mit einem jeden nach dessen Eigenart zu reden habe? Ist es nicht lächerlich Jesus vorzuwerfen, "er sei unfähig, zu überzeugen"? Das trifft nicht nur auf den Juden zu, der in seinen Propheten derartige Beispiele in Menge findet, sondern auch auf die Griechen, bei denen keiner von denen, die wegen ihrer Weisheit S. 202 großen Ruhm davon getragen haben, imstande gewesen ist, seine heimlichen Feinde oder seine Richter oder seine Ankläger "zu bereden", von dem Unrecht abzulassen und den Weg der Weisheit einzuschlagen, um zur Tugend zu gelangen.
Vgl. Mt 23,13-29; Lk 6,24; 11,42-52. ↩
Vgl. Mt 11,22.24; 24,25. ↩
Jes 5,8. ↩
Ebd. 5,11. ↩
Ebd. 5,18. ↩
Ebd. 5,20. ↩
Ebd. 5,22. ↩
Ebd. 1,4. ↩
Jes 1,7. ↩
Ez 2,6. ↩
Siehe Scan. ↩
Siehe Scan. ↩
Siehe Scan. ↩
Vgl. Hebr 1,1. ↩
Vgl. oben I 12. ↩
Homer, Od. X 281. ↩
Vgl. Homer, Od. XII 45. ↩
Homer, Od. XII 184. ↩
