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Obgleich Jesus nur ein einziges Wesen war, so war er doch eine Mehrheit für die geistige Betrachtung und wurde nicht in gleicher Weise von allen, die ihn sehen, geschaut. Und dass er für die geistige Betrachtung eine Mehrheit war, erhellt deutlich aus folgenden Aussprüchen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“1, und „Ich bin das Brot“2 und „Ich bin die Tür“3 und aus vielen andern. Dass er aber auch, wenn er gesehen wurde, denen, die ihn sahen, nicht in derselben Weise erschien, sondern je nach ihrer Fassungskraft verschieden, wird klar werden, wenn man erwägt, weshalb er nicht alle Apostel, sondern nur den Petrus, Jakobus und Johannes mit sich auf den hohen Berg nahm, auf dem er verklärt werden sollte, da nur sie allein imstande waren4 seine Herrlichkeit bei dieser Gelegenheit zu schauen, und fähig, auch die Erscheinung des Moses und Elias in ihrer Herrlichkeit zu erkennen und ihre Unterredung und die himmlische Stimme aus den Wolken zu hören5. Auch als Jesus vor seinem Aufstieg auf den Berg, wo nur die Jünger zu ihm traten, die er über die Seligpreisungen[^190] belehrte, am Fuße des Berges weilte und, „als es Abend geworden war“, die Kranken, die zu ihm gebracht wurden, heilte und von allen Leiden und Gebresten befreite6: da sahen wohl die Kranken, die heilende Hilfe bei ihm suchten, etwas anderes in ihm als diejenigen, die wegen ihrer Gesundheit mit ihm den Berg zu ersteigen fähig waren. Aber auch wenn er seinen Jüngern die Gleichnisse besonders erklärte, die er den außen stehenden Volksmassen mit verborgenem Sinne gesagt S. 184 hatte7, so besaßen wohl die Hörer der Auslegung der Gleichnisse ein besseres Gehör als jene, welche die Gleichnisse ohne die Auslegung hörten, und ebenso ein besseres Auge, und zwar nicht nur des Geistes, sondern, wie ich glaube, auch des Leibes. Dass er aber nicht immer als derselbe erschien, beweisen die Worte:
„Den ich küssen werde, der ist es“8, die Judas, im Begriff, Jesus zu verraten, zu den Volkshaufen sprach, die mit ihm ausgezogen waren, als ob ihn diese nicht gekannt hätten. Solches scheint mir auch der Heiland selbst anzudeuten, wenn er sagt: „Täglich war ich bei euch und lehrte im Tempel, und ihr habt mich nicht ergriffen!“9 Da wir nun von Jesus diesen Glauben haben10, dass er so groß war nicht nur nach seiner Gottheit, die in ihm war und die der großen Menge verborgen blieb, sondern auch nach seinem Leibe, der sich verwandelte, wann er wollte und vor wem er wollte, deshalb sagen wir: Alle konnten ihn sehen, ehe er „die Herrschaften und die Mächte entwaffnet hatte“11, und ehe er „der Sünde gestorben war“12; als er aber „die Herrschaften und Mächte entwaffnet“ und nichts mehr an sich hatte, was die Augen der großen Menge zu schauen vermochten, waren die nicht mehr imstande, ihn zu schauen, die ihn früher alle gesehen hatten. Wenn er also nach seiner Auferstehung von den Toten nicht allen erschien, so tat er dies, weil er auf (ihr Unvermögen) Rücksicht nahm.
