XI.
Als sodann Burwista über die Goten herrschte, kam Dicineus nach Gotien, zur Zeit da Sulla die Herrschaft bei den Römern an sich riß. Diesen Dicineus nahm Burwista auf und verlieh ihm eine fast königliche Macht. Auf seinen Rat verheerten die Goten die Länder der Germanen, welche jetzt die Franken inne haben. Cäsar aber, der zu allererst das römische Reich sich untertan machte und sich fast die ganze Welt unterwarf und alle Königreiche überwand, ja sogar Inseln, die weit weg vom Festland im Ozean draußen lagen, eroberte und solche, die den S. 42 Namen der Römer nicht einmal vom Hörensagen kannten, zinspflichtig machte, konnte, so oft er es auch versuchte, doch nicht die Goten unterwerfen. Schon regierte Gajus Tiberius, der dritte römische Kaiser; aber auch unter seiner Regierung blieben die Goten frei. Das war ihr Glück, das war ihr Vorteil und ihr Wunsch, daß sie alle Vorschriften ihres Beraters Dicineus allein für begehrenswert hielten und diese auf jede mögliche Weise, weil sie ihnen eben nützlich schienen, zu verwirklichen suchten. Da dieser sah, daß sie ihm in allem folgten und auch von Natur wohl begabt waren, so unterrichtete er sie in fast der ganzen Philosophie; denn hierin war er ein erfahrener Meister. Er bildete sie durch die Ethik und milderte so ihre barbarischen Sitten; er unterrichtete sie in der Physik und brachte sie zu einem nach eigenen Gesetzen geregelten, naturgemäßen Leben; diese Gesetze sind jetzt noch bei ihnen geschrieben und heißen Belagines, er lehrte sie Logik und machte sie vor allen Völkern geschickt im Gebrauche ihrer Vernunft; die praktische Philosophie darlegend, wies er sie darauf hin, mit guten Werken ihr Leben zu schmücken; durch den Vortrag der theoretischen leitete er sie auf das Betrachten des Himmels hin und lehrte sie, die Bahnen der zwölf Himmelszeichen und den Weg der Planeten durch dieselben zu beobachten und die ganze Sternkunde zu betreiben; er setzte ihnen auseinander, wie der Mond wächst und abnimmt, und wie weit die feurige Sonnenkugel den Erdkreis an Größe übertrifft, oder er machte ihnen klar, unter welchem Namen oder welcher Bezeichnung die 346 Sterne, die am Himmelsgewölbe auf- und untergehen, von Osten nach Westen jäh hinabsinken. Was muß das für eine Freude gewesen sein, da heldenmütige Männer, S. 43 wenn sie die Waffen für kurze Zeit ruhen ließen, mit den Lehren der Philosophie erfüllt wurden? Da konnte man sehen, wie der eine nach der Lage des Himmels, der andere nach der Beschaffenheit der Kräuter und Gesträuche forschte, dieser das Ab- und Zunehmen des Mondes, jener Sonnenfinsternisse beobachtete und sich bei der Erklärung beruhigte, wie sie, die nach Osten eilen wollte, durch die kreisförmige Bewegung des Himmelgewölbes erfaßt nach Westen zurückgebracht wird. Solches und vieles andere teilte Dicineus den Goten aus seiner Erfahrung mit und gewann so wunderbar hohes Ansehen bei ihnen, daß er nicht bloß das Volk, sondern sogar die Könige beherrschte. Er wählte aus ihnen die edelsten und klügsten Männer, unterrichtete sie in der Theologie und hieß sie bestimmte Gottheiten und Heiligtümer in Ehren halten und machte sie zu Priestern; diesen gab er den Namen Pilleaten, wahrscheinlich, weil sie beim Opfern das Haupt mit einer Tiara bedeckt hatten, was wir pilleus nennen; das übrige Volk aber befahl er Kapillaten zu heißen, ein Name, den die Goten hochhielten, und dessen sie noch heutzutage in ihren Gesängen gedenken. Als aber Dicineus starb, erwiesen sie dem Komosikus die gleiche Ehre, weil er dieselbe Klugheit besaß. Er galt ihnen wegen seiner Erfahrung für König und Priester zugleich und richtete die Völker mit großer Gerechtigkeit.
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