V.
Scythien grenzt an Germanien bis dahin, wo der Fluß Ister entspringt oder der Marsianische See sich ausbreitet; es erstreckt sich bis an die Flüsse Tyras, Danaster und Vagosola, und jenen großen Danaper und an das Taurusgebirge, nicht das in Asien, sondern ein besonderes scythisches, längs des ganzen Mäotischen Meeres und darüber hinaus durch die Enge des Bosporus bis an den S. 28 Kaukasus und den Araxes; sodann biegt es hinter dem Kaspischen Meer nach der linken Seite um; im äußersten Asien vom Eoroborischen Ozean ab zuerst in der Form eines dünnen Pilzes, wird es nachher sehr breit und kreisförmig und erstreckt sich bis zu den Hunnen, Albanern und Seren. Dies Land Scythien also, weit in die Länge und Breite sich ausdehnend, grenzt im Osten an die Seren, welche an seinem Ende beim Kaspischen Meer wohnen, im Westen an die Germanen und an den Fhuß Vistula; im Norden wird es vom Ozean, im Süden von Persien, Albanien, Iberien, dem Pontischen Meer und dem untern Lauf des Ister begrenzt, der von seiner Mündung bis zur Quelle auch Danubius heißt. Auf der Seite, wo es die Küste des Pontus streift, berührt es bekannte Städte: Boristhenis, Olbia, Kallipolida, Chersona, Theodosia, Kareon, Myrmikon und Trapezunt, welche die wilden Scythenvölker von den Griechen gründen ließen, damit sie mit ihnen Handel treiben könnten. Mitten in diesem Scythien gibt es eine Gegend, die Asien und Europa voneinander trennt, nämlich die Riphäischen Berge, auf welchen der gewaltige Tanais entspringt der in die Mäotis mündet; des letztem Sumpfes Umfang beträgt 144000 Schritte, und er ist nirgends tiefer als acht Ellen. Das erste Volk im westlichen Scythien ist das der Gepiden, deren Land von großen und bedeutenden Flüssen durchströmt wird; denn die Tisia durchfließt es von Norden nach Süden; von Westen kommt der große Danubius selber, von Osten der Flutausis, der reißend mit vielen Stromschnellen in die Fluten des Ister mündet. Weiter nach innen zu liegt Dazien, das von steilen Gebirgen, die wie ein Kranz dasselbe umgeben, geschützt ist. Links von diesen, wo die Grenze nordwärts geht, von den Quellen der Vistula ab S. 29über ungeheure Strecken hin sitzt das zahlreiche Volk der Veneter. Mögen auch ihre Benennungen wechseln nach ihren verschiedenen Stämmen und Wohnsitzen, die hauptsächlichen Namen sind doch die der Sklavenen und Anten. Die Sklavenen haben das Land von der Stadt Novietunum und dem sogenannten Mursianischen See bis zum Danaster, im Norden bis zur Vistula inne. Statt in Städten wohnen diese in Sümpfen und Wäldern. Die Anten dagegen, die tapfersten unter ihnen, wohnen an der Krümmung des Pontus vom Danaster bis zum Danaper, die viele Tagereisen voneinander entfernt sind. An der Küste des Ozeans aber, wo sich in diesen die Vistula mit drei Mündungen ergießt, sitzen die Widiwarier, die sich aus verschiedenen Stämmen zusammengeschart haben. Hinter diesen wohnen gleichfalls am Ozean die Ästen, ein sehr friedliebendes Volk. Im Süden von diesen sitzt das tapfere Volk der Akatziren, das von Früchten nichts weiß und nur von Vieh und von der Jagd lebt. Jenseits von diesem wieder oberhalb des Pontischen Meeres breiten sich die Sitze der Bulgaren aus, welche die unglücklichen Folgen unserer Sünden so weit bekannt gemacht haben. Von hier ist durch die Hunnen aus einem an tapfern Stämmen so fruchtbaren Boden zweifache Wut über die Völker gekommen. Die einen nämlich heißen Altziagiren, die andern Saviren, und sie bewohnen voneinander gesonderte Länder: die Altziagiren neben Chersona, wohin der habgierige Kaufmann Asiens Waren bringt; im Sommer durchstreifen sie die weiten Steppen und wählen ihre Wohnsitze, je nachdem sie der Reichtum an Futter für das Vieh dazu einlädt; im Winter ziehen sie sich an das Gestade des Pontischen Meeres zurück. Die Hunuguren aber sind durch den Handel mit Hermelinfellen, S. 30 die dort zu haben sind, bekannt. Vor ihnen fürchtete sich die Kühnheit so großer Männer. Von ihnen lesen wir, daß ihre Wohnsitze zuerst auf scythischem Boden längs des Mäotischen Sumpfes waren; dann wohnten sie in Mösien, Thrazien und Dazien; später wieder werden sie als nördlich vom Pontischen Meer in Scythien wohnend erwähnt; nirgends aber finden wir solche Märchen aufgezeichnet, daß sie in Britannien oder auf sonst einer Insel unterjocht und von jemanden um den Preis eiens einzigen Pferdes losgekauft worden seien. Wenn nun aber jemand behauptet, daß sie anders, als wir berichtet haben, in der Geschichte zum Vorschein gekommen seien, so steht dies zwar unserer Ansicht entgegen; wir halten uns jedoch lieber an das, was wir gelesen haben, als an Altweibermärchen. Um also zu unserer Aufgabe zurückzukommen, so hatten sie in der ersten Zeit, von der wir ausgehen, als sie an der Mäotis in Scythien wohnten, nach dem, was man davon weiß, einen König Filimer. In der zweiten, d. h. als sie in Dazien, Thrazien und Mösien saßen, erwähnen sehr viele Geschichtschreiber bei ihnen den Zalmoxes als einen in der Philosophie ausnehmend unterrichteten Mann. Schon vor diesem hatten sie den Zeuta, einen weisen Mann, nachher noch den Dicineus, als dritten den Zalmoxes, von dem ich oben gesprochen. Auch hatten sie reichlich Lehrer der Weisheit. Daher waren die Goten stets gebildeter als fast alle andern Barbaren und kamen nahezu den Griechen gleich, wie Dio berichtet, der die Geschichten und Jahrbücher derselben in griechischer Sprache verfaßt hat. Er sagt, daß diejenigen, welche unter ihnen durch edle Geburt hervorragten und aus welchen sowohl die Könige als auch die Priester entnommen wurden, zuerst Tarabosten, dann Pilleaten S. 31 geheißen hätten. So berühmt waren die Goten, daß man ehedem erzählte, Mars, den der Trug der Dichter den Kriegsgott nennt, sei bei ihnen geboren worden. Daher sagt Vergil: „Auch der Vater Gradivus, der Herr der gotischen Lande“. Diesen Mars haben die Goten immer mit einem grausamen Kultus verehrt - denn sein Opfer war der Tod der Kriegsgefangenen -, in der Meinung, daß der Lenker der Schlachten billigerweise durch Menschenblut versöhnt werden müsse. Ihm wurden die Erstlinge der Beute gelobt, ihm wurden an Baumstämmen erbeutete Rüstungen aufgehängt; es war ihnen eine ganz besondere Verehrung für ihn angeboren, da es so schien, als ob sie die göttliche Verehrung ihrem Stammesvater erwiesen. In ihrem dritten Wohnsitz aber oberhalb des Pontischen Meeres, wo sie schon menschlicher und, wie oben erwähnt, gebildeter wurden, verteilten sie sich unter zwei Geschlechter; die Wesegoten dienten dem Geschlecht der Balthen, die Ostrogoten den berühmten Amalern. Zuerst unter ihren Nachbarn ging ihr Strehen darauf, die Bogen mit Sehnen zu bespannen, wie Lukan, der eher Geschichtschreiber ist als Dichter, bezeugt: „Und die armenischen Bogen bespannt mit gotischen Sehnen!“ Vorher schon feierten sie mit Gesang und Zitherspiel die Taten ihrer Vorfahren, des Eterpamara, Hanala, Fridigern, Widigoia und anderer, deren Namen bei diesen Völkern in so hohem Ansehen stehen, wie das bewundernswerte Altertum kaum von dem Heroen rühmt. Damals überzog, wie berichtet wird, Vesosis die Scythen mit einem Krieg, der für ihn tränenreicher ward - nämlich die, welche das Altertum als Männer der Amazonen bezeichnet. Denn auch die Weiber derselben führten Krieg, wie Orosius im ersten Buch deutlich aussagt. Wir sind daher ganz S. 32 entschieden für die Ansicht, daß er damals mit den Goten gekämpft hat; daß er nämlich mit den Männern der Amazonen gestritten, wissen wir sicher. Denn damals saßen diese in dem Gebiet von Borysthenes, den seine Anwohner Danaper nennen, bis an den Tanais rings um den Winkel des Mäotischen Sumpfes. Mit dem Tanais aber meine ich den Fluß, der auf den Riphäischen Bergen entspringend solch einen reißenden Lauf hat, daß er allein, wenn die benachbarten Flüsse oder die Mäotis, ja selbst der Bosporus gefrieren, aus kluftigen Bergen hervorsprudelnd niemals selbst in scythischer Kälte zu Eis gefriert. Hier nimmt man die berühmte Grenze von Asien und Europa an. Ein anderer ist der, welcher auf Bergen der Chrinner entspringt und ins Kaspische Meer fließt. Der Danaper aber entspringt aus einem großen Sumpf, aus welchem er wie das Kind aus dem Mutterleib hervorkommt. Er hat bis zu seinem mittleren Lauf süßes, trinkbares Wasser und Fische von gutem Geschmack, die keine Knochen, sondern nur Knorpeln im Leib haben. Aber in der Nähe des Pontus nimmt er einen kleinen Fluß, den Exampheus auf, dessen Wasser so bitter ist, daß jener, der schon 40 Tagereisen schiffbar ist, durch dies kleine Wässerlein verändert und gefärbt wird, so daß er sich gar nicht mehr gleich sieht; zwischen den griechischen Städten Kallipidä und Hypannis fließt er dann ins Meer. Vor seiner Mündung liegt eine Insel Achilles. Dazwischen liegt weites, ödes Land, das mit Wäldern bewachsen und voll gefährlicher Sümpfe ist.
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