XXIX.
S. 76 Nachdem aber Theodosius, welcher den Frieden und das Gotenvolk lieb hatte, aus dem irdischen Leben geschieden war, begannen seine Söhne durch ihr üppiges Leben beide Reiche zugrunde zu richten, und ihren Hilfsvölkern, das heißt den Goten, die gewohnten Geschenke zu entziehen. Darauf wurden die Goten ihrer überdrüssig, und da sie fürchteten, ihre Tapferkeit in der langen Friedenszeit einzubüßen, so machten sie den Alarich zum König über sich. Sein Adel war nach dem der Amaler der höchste; denn er stammte aus dem Geschlecht der Balthen, das schon längst wegen seiner Kühnheit den Namen Baltha, das heißt „kühn“ bekommen hatte. Sobald daher der besagte Alarich zum König gewählt worden war, beriet er sich mit den Seinigen und schlug ihnen vor, lieber durch eigene Arbeit Reiche zu erobern, als Fremden in Ruhe untertan zu sein. Er nahm darauf das Heer und rückte unter dem Konsulat des Stiliko und Aurelianus durch Pannonien und Sirmium von der rechten Seite in Italien ein, das sozusagen von Männern ganz entblößt war, und näherte sich ohne Widerstand zu finden der Brücke über den Kandidianus, die drei Milien von der Kaiserstadt Ravenna entfernt war. Diese Stadt zwischen Sümpfen und Meer und den Fluten des Po, ist nur auf einer Seite zugänglich. In einem Winkel des Römischen Reiches am Ionischen Meer gelegen, wird sie wie eine Insel von der Flut der zuströmenden Gewässer eingeschlossen. Im Osten ist das Meer. Wer auf diese Stadt von Korzyra und Hellas gerade lossteuert, hat zur rechten Hand bei der Fahrt zuerst Epirus, dann Dalmatien, Liburnien und Histrien und streicht so an Venetien vorbei.
S. 77 Im Westen sind Sümpfe, durch welche ein einziger sehr enger Eingang, wie ein Tor, gelassen ist. Im Norden reicht bis dahin ein Arm des Padus, welcher der Graben des Askon genannt wird. Im Süden befindet sich ebenfalls der Padus, den man den König unter den Flüssen Italiens nennt, mit dem Beinamen Eridanus. Er wurde vom Kaiser Augustus in einem sehr breiten Graben herabgeleitet und fließt mit dem siebenten Teil seiner Wasser mitten durch die Stadt, und hat an seiner Mündung einen sehr schönen Hafen, von dem man, wie Dio berichtet, glaubte, daß er einst ein sehr sicherer Ankerplatz für eine Flotte von 250 Schiffen gewesen sei. Dieser zeigt sich jetzt nach dem Bericht des Favius da, wo einst der Hafen war, als umfangreicher Garten reich an Bäumen, an denen aber nicht Segel, sondern Obstfrüchte hängen. Die Stadt selbst rühmt sich eines dreifachen Namens und erfreut sich einer dreiteiligen Lage. Zuvorderst heißt sie Ravenna, am andern Ende Classis, in der Mitte zwischen Stadt und Meer Cäsarea, voll von weichem Sand, der eine bequeme Reitbahn bildet.
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