LVI.
S. 140 Später, als da und dort bei den Nachbarvölkern die Ergebnisse der Raubzüge spärlicher ausfielen, fehlte es auch den Goten allmählich an Nahrung und Kleidung, und es wurde ihnen, Leuten, denen schon lange der Krieg die einzige Erwerbsquelle gewesen war, der Friede unbequem; sie zogen alle zusammen mit lautem Geschrei vor den König Thiudimir und baten, er möge doch irgendwohin zum Krieg ausziehen, wohin er nur wolle. Dieser rief seinen Bruder herbei, und nach der Entscheidung des Loses forderte er ihn auf, nach Italien zu ziehen, wo damals der Kaiser Glycerius herrschte; [473] er selbst wählte sich als der Stärkere ein stärkeres Reich, nämlich das Oströmische, aus. So geschah es auch. Kaum war Widimir aber in Italien eingerückt, als er dem Tod seine Schuld entrichtete und aus diesem Leben schied. Als Nachfolger in der Herrschaft hinterließ er seinen gleichnamigen Sohn Widimir. Diesem gab der Kaiser Geschenke und wußte ihn so von Italien nach Gallien abzuleiten, das von verschiedenen Völkern ringsum bedrängt wurde; „dort“, fügte er hinzu, „wohnen auch die Wesegoten, eure Stammesverwandten“. Kurz, Widimir nahm die Geschenke und den Auftrag des Kaisers Glycerius an und zog nach Gallien. Hier vereinigte er sich mit seinen Stammesverwandten, den Wesegoten, verschmolz die Seinigen mit ihnen zu einem Volk, wie sie es früher gewesen waren, und so bewohnten sie Gallien und Spanien und behaupten es so, daß dort kein anderer die übermacht über sie hat.
Thiudimir aber, der ältere Bruder, zog mit den Seinigen über den Fluß Saus und bedrohte die Sarmaten und S. 141 die römische Besatzung mit Krieg, wenn sie ihm etwa im Weg stehen sollten. Aus Furcht davor hielten sie sich ruhig und vermochten auch nichts gegenüber der so großen Menge.
Als Thiudimir sah, daß ihm alles gut vonstatten gehe, griff er Naissus an, die erste Stadt Illyrikums, gab seinem Sohn Theodorich die Grafen Astat und lnvilia bei und schickte sie dann durch Kastrum Herculis und Ulpiana.
Als sie dorthin kamen, ergab sich ihnen dieses selbst, wie auch die Stadt Stobis und sie machten sich mehrere Gegenden von Illyrikum, die sie vorher nicht hatten betreten können, nun erst zugänglich.
Zuerst suchten sie Eraklea und Larissa, zwei Städte in Thessalien, mit einem Raubzug heim, dann bemächtigten sie sich nach Kriegsrecht auch der Städte selbst. Als nun der König Thiudimir sein eigenes Glück sowie das seines Sohnes sah, war er damit noch nicht zufrieden. Er verließ Naissus, ließ nur wenige Leute zur Bewachung da und griff Thessalonika an, wo sich der Patrizius Hilarianus aufhielt, der mit einem Heer vom Kaiser dorthin geschickt war.
Als dieser sah, daß Thessalonich mit einem Wall umgeben werde und er ihrer Kühnheit nicht widerstehen könne, schickte er zu Thiudimir eine Gesandtschaft, bot ihm Geschenke an und brachte ihn dadurch von der Zerstörung der Stadt ab. Dann schloß der Anführer der Römer einen Vertrag mit den Goten und übergab ihnen freiwillig einige Orte zum Wohnen, nämlich Cerrus, Pellas, Europa, Mediana, Petina, Bereu und einen andern Ort, der Sium genannt wird.
Hier legten die Goten mit ihrem König die Waffen nieder S. 142 und lebten im Frieden. Nicht lange darauf wurde auch König Thiudimir in der Stadt Cerrus von einer tödlichen Krankheit ergriffen. Er berief deshalb eine Versammlung der Goten und bezeichnete seinen Sohn Theodorich als Erben; kurz nachher starb er.
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