14.
Gewiss fände ein Heide, der Christus verachtet, im Evangelium genügend Stellen, um ihn in gleicher Weise zu verleumden und zu kritisieren, wie das Faustus gegenüber Gott im Alten Testament tut. Denn auch er würde Christus als Ignoranten bezeichnen (593,22), nicht nur weil er sich über den Glauben des Hauptmanns wunderte (cf. Mt. 8,10), sondern auch weil er Judas unter seine Jünger aufnahm, der einmal seine Gebote missachten sollte (cf. Joh. 6,71): genau so kritisierte Faustus, dass dem Menschen im Paradies eine Vorschrift erteilt wurde, die dieser niemals einhalten würde (cf. Gen. 2,17; 3,6 ff.). Auch dies würde der Heide Christus zum Vorwurf machen, dass er nicht erkennen konnte, wer ihn berührt hatte, als jene Frau, die an Blutfluss litt, den Saum seines Kleides berührte (cf. Lk. 8,44 ff.): genau so erhob Faustus gegen Gott den Vorwurf, dass er nicht wusste, wo Adam sich versteckt hielt (593,22; cf. Gen. 3,7 ff.), was er, wie ich glaube, aus dessen Frage (gen. 3,9): Adam, wo bist du? erschliesst, so wie Christus fragte (Lk. 8,45): Wer hat mich berührt? Er würde Christus auch Missgunst vorwerfen und die ängstliche Sorge, jene fünf andern Jungfrauen könnten das ewige Leben gewinnen, wenn er sie in sein Reich eintreten liesse, sodass er die Tür vor ihnen so fest verschloss, dass er auch auf ihr mitleidheischendes Klopfen hin nicht öffnete (cf. Mt. 25,11 ff.), als hätte er vergessen, was er selbst mit den Worten versprochen hatte (Mt. 7,7): Klopft an, dann wird euch geöffnet!: genauso bezichtigte Faustus (593,24) Gott der Missgunst und Ängstlichkeit, weil er den Sünder nicht zum ewigen Leben zugelassen habe (cf. Gen. 3,4 ff). Der Heide würde Christus auch seine Gier nach Blut – allerdings nicht von Tieren sondern von Menschen – vorwerfen, da er ja sagte (Mt. 10,39): Wer sein Leben meinetwegen verliert, wird es finden für alle Ewigkeit: genau so nahm Faustus die Tieropfer zum Anlass für böswillige Kritik (593,25), obwohl diese doch Modellbilder zur Verheissung jenes Blutopfers waren, durch das wir losgekauft wurden. Er würde auch seine Eifersucht anprangern, da ja der Evangelist anlässlich der Szene, in der Christus Käufer und Verkäufer mit Geisselhieben aus dem Tempel vertrieb (cf. Joh. 2,15 ff.), jenen Satz erwähnte, der über ihn geschrieben stand (Ps. 69,10): Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren: genauso bezichtigte Faustus Gott der Eifersucht, weil er Opfer an andere Götter verboten habe, (593,26). Er würde ihn als jähzornig gegen die Seinen und gegen Fremde bezeichnen; gegen die Seinen, weil er sagte (Lk. 12,47): Der Knecht, der den Willen seines Herrn kennt und Dinge tut, die Schläge verdienen, der wird viele Schläge bekommen, gegen Fremde, weil er sagte (Mt. 10,14 f.): Wenn jemand euch nicht aufnimmt, schüttelt den Staub von eurem Schuhwerk über ihn; wahrlich ich sage euch: es wird Sodoma weniger schlimm ergehen am Tag des Gerichts als jener Stadt: genau so wirft Faustus Gott vor, jähzornig zu sein, einmal gegen Fremde, einmal gegen die Seinen (593,27), was der Apostel für beide Kategorien bestätigt, wenn er sagt (Rm. 2,12): Alle, die sündigten, ohne das Gesetz zu haben, werden ohne Gesetz zugrundegehen; und alle, die unter dem Gesetz sündigten, werden durch das Gesetz gerichtet werden. Er würde auch behaupten, Christus sei ein Mörder und vergiesse das Blut vieler wegen harmloser oder gar nur vermeintlicher Vergehen. Als harmloses oder nur vermeintliches Vergehen würde dem Heiden zum Beispiel erscheinen, bei einem Hochzeitsmahl kein hochzeitliches Gewand zu tragen, - was unseren König im Evangelium veranlasste (cf. Mt. 22,11 ff.), den Mann an Händen und Füssen gefesselt in die äusserste Finsternis werfen zu lassen –, oder es abzulehnen, Christus als König über sich zu haben, eine Sünde, deretwegen er sagte (Lk. 19,27): Jene aber, die nicht wollten, dass ich ihr König werde, bringt sie her und tötet sie vor meinen Augen!; eben diese Anklage erhob Faustus gegen den Gott des Alten Testaments, weil er den Eindruck hatte, dass dieser Tausende von Menschen hinmetzeln liess, die sich nur geringer oder überhaupt keiner Vergehen schuldig gemacht hatten (594,1). Und wenn Faustus Gott schliesslich noch zurechtweist wegen seiner Drohung, dass er mit dem Schwert kommen und weder den Gerechten noch den Sünder verschonen werde (594,2), welche Vorwürfe würde da unser Heide erheben, wenn er den Apostel Paulus über unsern Gott sagen hörte, dass er (Rm. 8,32) seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns alle hingegeben habe, oder wenn er hörte, wie Petrus über die grossen Drangsale der Heiligen und die Massaker, die an ihnen verübt werden, spricht, und dabei mit folgenden Worten zum Ausharren ermuntert (I Petr. 4,17 f.): Jetzt ist die Zeit, in der das Gericht im Haus Gottes beginnt; wenn es aber bei uns seinen Anfang nimmt, wie wird dann das Ende für jene sein, die dem Evangelium des Herrn keinen Glauben schenken? Und [prov. 11,31]‛wenn schon der Gerechte kaum Rettung finden wird, wo wird man erst den Sünder und der Gottesverächter finden?’. Denn was gibt es Gerechteres als den Einen, den der Vater trotzdem nicht verschonte? Und was zeigt augenscheinlicher, dass Gott auch die Gerechten nicht verschont, indem er sie mit einer Vielfalt von Drangsalen zur Vollendung führt, als wenn darüber unverhüllt gesagt wird (prov. 11,31): Wenn schon der Gerechte kaum Rettung finden wird? Wir lesen ja im Alten Testament (prov. 3,12; [Hebr. 12,6]): Wen nämlich Gott liebt, den züchtigt er; und er schlägt mit der Rute jeden, den er als Sohn annimmt, oder (Iob 2,10): Wenn wir das Gute aus der Hand des Herrn annehmen, warum ertragen wir dann das Böse nicht? , aber auch im Neuen (apoc. 3,19): Wen ich liebe, den weise ich zurecht und züchtige ihn, oder jenen Satz (I Kor. 11,31 f.): Gingen wir nämlich mit uns selber ins Gericht, würden wir vom Herrn nicht gerichtet; wenn wir aber von Herrn gerichtet werden, dann werden wir von ihm gezüchtigt, damit wir nicht zusammen mit dieser Welt verdammt werden. Würden nun die Manichäer, selbst wenn der Heide im Neuen Testament genau jene Handlungsweisen anprangerte, die sie selber im Alten Testament anprangern, nicht trotzdem versuchen, sie dort zu rechtfertigen? Wenn sie so weit gingen, zeugte es allerdings von einiger Geistesverwirrung, das gleiche Verhalten hier anzuprangern, dort zu rechtfertigen! Wenn sie aber nicht so weit gehen wollten, müssten sie sich fragen lassen, warum es für sie beim einen Testament, nicht aber bei beiden, denkbar ist, dass dasselbe Verhalten dem Gottesverächter, der es nicht begreift, als verwerflich erscheinen könnte, dem Gottesfürchtigen aber, der es nicht begreift, für sittlich einwandfrei, allerdings ins Geheimnis gehüllt, gelten muss.
