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In der Gestalt der Thamar, der Schwiegertochter des Juda, erkennt man also die Bevölkerung des Jüdischen Reiches, dem die Könige aus dem Stamm Juda gleichsam als Gatten gegeben wurden. Aus gutem Grund lässt sich Thamars Name mit Bitterkeit übersetzen; eben diese Menschen reichten ja dem Herrn den mit Galle gefüllten Becher (cf. Mt. 27,34). Die beiden Kategorien von Regenten, deren Herrschaft dem Volk zum Übel gereichte – die einen sind jene, die ihm Schaden zufügten, die andern jene, die ihm keinen Nutzen brachten -, sind versinnbildlicht durch die beiden Söhne des Juda, deren einer übelgesinnt und grausam vor dem Herrn war (cf. Gen. 38,7), während der andere seinen Samen zur Erde fallen liess, um ihn der Thamar vorzuenthalten und ihr so keinen Nachwuchs zu verschaffen (cf. Ib. 9). Ebenso gibt es nur zwei Kategorien von Menschen, die dem Menschengeschlecht unnütz sind: zum einen jene, die ihm Schaden zufügen, zum andern jene, die ihm jeden Dienst verweigern und ihren Reichtum, den sie in diesem irdischen Leben vielleicht besitzen, lieber vernichten, also gleichsam auf die Erde ausschütten. Und weil der, welcher Schaden zufügt, den, welcher keinen Nutzen bringt, im Bösen übertrifft, wird jener Übelgesinnte als Erstgeborener bezeichnet, der welcher den Samen zur Erde fallen liess, als der Zweitgeborene. Zudem lässt sich der Name des Erstgeborenen, der Er hiess, mit der Fellbekleidete übersetzen, bezeichnet also jene Kleidungsart, die die ersten Menschen trugen, als sie aufgrund ihrer Verurteilung aus dem Paradies verjagt wurden (cf. Gen. 3,21. 23), der Name des Zweitgeborenen aber, der Onan hiess, lässt sich >mit ihre Betrübnis übersetzen. Und damit ist natürlich die Betrübnis jener gemeint, denen er keinen Nutzen bringt, obwohl er die Mittel dazu besässe, aber sie lieber auf der Erde verderben lässt. Im weiteren ist es ein grösseres Übel, wenn jemand des Lebens beraubt wird, was durch den Ausdruck Fell versinnbildlicht wird, als wenn ihm die Hilfe zum Leben verweigert wird, was der Ausdruck ihre Betrübnis versinnbildlicht. Es heisst nun aber, dass Gott beide sterben liess (cf. Gen. 38,7. 10), womit modellbildhaft ausgedrückt ist, dass er solchen Menschen die Herrschaft wegnahm. Der dritte Sohn des Juda aber, der jener Frau als Gatte verweigert wird (cf. Ib. 14), versinnbildlicht die Zeit, in der die Könige, die über das Volk der Juden herrschten, schon nicht mehr dem Stamm Juda entstammten. Und dass ihn Thamar, obwohl er Sohn des Juda war, nicht zum Gatten bekam, bedeutet, dass es zwar den Stamm Juda weiterhin gab, dass aber niemand mehr aus diesem Stamm über das Volk regierte. Demgemäss lässt sich sein Name, nämlich Schela, mit seine Entlassung übersetzen. Nicht in den Rahmen dieses Sinnbildes gehören allerdings die heiligen und gerechten Männer, die zwar in jener Zeit lebten, aber zum Neuen Testament gehören, dem sie durch ihre Prophetien, deren sie sich durchaus bewusst waren, Nutzen brachten, wie z.B. David. In jener Zeit, als Judäa schon nicht mehr durch Könige aus dem Stamm Juda regiert wurde, ist natürlich auch Herodes der Ältere, einer seiner Könige, – bildlich gesprochen – nicht zu den Ehemännern der Thamar zu rechnen; er war nämlich ein Fremdstämmiger und mit dem jüdischen Volk nicht durch jenes Heilsymbol der mystischen Salbung, gleichsam einem Ehevertrag, verbunden, sondern herrschte gleichsam als Auswärtiger dank der Macht, die er von den Römern und vom Kaiser erhalten hatte. Das gleiche gilt für seine Söhne, die Tetrachen, deren einer nach dem Namen seines Vaters Herodes hiess, der beim Leiden des Herrn mit Pilatus gemeinsame Sache machte (cf. Lk. 23,12). Diese Fremdstämmigen wurden so wenig jenem mystischen Königtum der Juden zugerechnet, dass sogar die Juden selber zähnefletschend in aller Öffentlichkeit gegen Christus lossbrüllten ( Joh. 19,15): Wir haben keinen König ausser dem Kaiser. Und auch dies war ja nur in dem Sinn wahr, als die Römer die Weltherrschaft besassen, denn auch der Kaiser war nicht im eigentlichen Sinn König der Juden. Doch um ihre Ablehnung Christi kundzutun und dem Kaiser zu schmeicheln, sprachen sie mit diesem Ausruf das Urteil über sich selber.
