83.
Als nächstes wollen wir nun untersuchen, welches zukünftige Geschehen durch die Tat des Juda, der mit seiner Schwiegertochter schlief (cf. Gen. 38), versinnbildlicht wird. Zuvor ist allerdings eine Vorbemerkung nötig, damit Menschen mit weniger Einblick nicht etwa Anstoss daran nehmen, dass bestimmte, in den heiligen Schriften geschilderte menschliche Übeltaten in ihrer Sinnbildfunktion auf ein zukünftiges Gut, nicht auf ein zukünftiges Übel hinweisen. In der Tat ist die göttliche Vorsehung in allen Bereichen bestimmt von der Wesenskraft ihrer Güte: Wie aus der unzüchtigen Handlung des Ehebrechers ein Mensch gezeugt und geboren wird, aus üblem Menschenwerk also ein treffliches Werk Gottes entsteht, - was, wie wir an früherer Stelle in unserem Disput bereits gesagt haben (641,16), an der Fruchtbarkeit des Samens, nicht an der Schändlichkeit des Lasters liegt –, genauso können auch in den Schriften der Propheten, die ja nicht nur von den guten, sondern auch den üblen Taten der Menschen berichten - diese Berichte haben ja in sich prophetischen Charakter -, manche üble Werke der Menschen sinnbildhaft auf etwas Gutes in der Zukunft hinweisen, was aber nicht das Verdienst des Sünders, sondern des Schriftstellers ist. So verfolgte Juda, als er, von Liebesgier überwältigt, zu Tamar ging (cf. Gen. 38,16 ff.), mit dieser lüsternen Tat keineswegs die Absicht, eine Handlung zu vollziehen, die sinnbildhaft auf das Heil der Menschen hinweisen sollte. Ebensowenig beabsichtigte jener Judas, der den Herrn auslieferte (cf. Joh. 13,2 ff.), damit etwas zu vollbringen, was auf dieses Heil der Menschen Bezug nahm. Wenn aber der Herr aus dem so schlimmen Werk jenes Judas ein so gutes Werk hervorgehen liess, indem er uns mit dem Blut, das er bei seinem Leiden vergoss, loskaufte, was wundert es da, wenn sein Prophet, über den er selber sagte (Joh. 5,46): Denn über mich hat er geschrieben, die schlimme Tat jenes Juda als Sinnbild für etwas Gutes verwendete, um uns mit seinem prophetischen Dienst darauf hinzuweisen? Der Schriftsteller sammelte ja diese menschlichen Taten als Prophet unter der Weisung und Inspiration des Heiligen Geistes, und so bedeutete schon ihre Aufnahme in den Text, dass sie eine Sinnbildfunktion für jene Heilswirklichkeit erfüllten, die er prophezeien wollte. Um aber etwas Gutes zu versinnbildlichen, ist es nicht von Belang, ob die Taten, die als Sinnbilder dienen, gut oder schlecht sind. Was macht es mir aus, wenn ich mich durch Lektüre über etwas informieren will, ob ich die schwarzen Äthiopier mit roter Tinte, oder die weisshäutigen Gallier mit schwarzer Tinte beschrieben finde? Wenn ich dagegen nicht einen Text, sondern ein Bildwerk in solcher Ausführung sähe, würde ich das beanstanden. Ebenso verhält es sich bei menschlichen Taten: Wenn sie als nachahmenswerte oder abschreckende Beispiele gezeigt werden, ist es ziemlich entscheidend, ob sie gut oder schlecht sind. Werden sie dagegen in der Funktion eines Sinnbilds aufgeschrieben oder erzählt, tut es nichts zur Sache, ob sie dem Charakter des Handelnden Lob oder Tadel einbringen, wichtig ist nur, dass zwischen ihnen und der Heilswirklichkeit, auf die sie hinweisen, eine Kongruenz besteht, die sie als Modellbilder verwendbar macht. So war die Aussage des Kaiphas im Evangelium (cf. Joh. 11,49 ff.), denkt man an seine böswillige und unheilvolle Gesinnung, aber auch an den Wortlaut selber, - falls man darin auf die Absicht des Sprechers achtet, der ja damit bezweckte, dass ein Gerechter zu Unrecht getötet würde -, ohne Zweifel böse, und dennoch wies sie, ohne sein Wissen, sinnbildlich auf ein grosses Gut hin, damals als er erklärte (ib. 50): Es ist besser, dass ein einziger stirbt, statt dass das ganze Volk zugrundegeht, worauf über ihn gesagt wurde (ib. 51): Das sagte er nicht aus sich selbst, sondern weil er Hohepriester war, redete er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für sein Volk sterben müsse. Und so war auch die Tat des Juda, denkt man an die Lüsternheit, mit der er sie beging, böse, und doch war auch sie Sinnbild für ein grosses Gut, ohne dass er sich dessen bewusst war; denn er war natürlich nur für die böse Tat verantwortlich, nicht aber dafür, dass sie als Sinnbild für etwas Gutes diente. Diese Vorbemerkung, die ich für notwendig hielt, soll nicht nur für diese Tat des Juda gelten, sondern für alles, was uns sonst noch an üblem Menschenwerk begegnen wird und dem Erzähler dazu diente, etwas Gutes zu prophezeien.
