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Nun mag jemand einwenden: Warum denn setzte Abraham nicht soviel Vertrauen auf seinen Gott, dass er sich ohne Furcht zu seiner Ehefrau hätte bekennen können? Denn Gott wäre ja durchaus imstande gewesen, Abraham vor dem Tod, den jener befürchtete, zu bewahren, und ihn samt seiner Ehefrau auf jenerWanderung (cf. Gen. 12) vor jedem Ungemach zu schützen, sodass weder seine Frau, obwohl sie ausnehmend schön war, von irgend jemandem begehrt, noch er selber ihretwegen getötet worden wäre? Gewiss hätte dies in der Macht Gottes gelegen; wer wäre so töricht, dies zu leugnen? Wenn allerdings Abraham auf die ihm gestellte Frage hin (cf. Gen. 20,5) erklärt hätte, dass diese Frau seine Gattin sei, hätte er Gott zwei Dinge zum Schutz anvertraut, einmal sein eigenes Leben, sodann die Integrität seiner Gemahlin. Es ist nun aber Bestandteil der gesunden Lehre, dass der Mensch, wenn er sich selber zu helfen weiss, Gott, seinen Herrn, nicht auf die Probe stellen soll (cf. Deut. 6,16). Auch unser Erlöser wäre ja durchaus imstande gewesen, seine Jünger zu schützen, und trotzdem sagte er zu ihnen (Mt. 10,23): Wenn man euch in der einen Stadt verfolgt, flieht in eine andere! ein Verhalten, wofür er selber schon früher ein Beispiel gegeben hatte. Denn obwohl die Verfügungsgewalt, sein Leben hinzugeben, bei ihm selber lag, und er es niemals ohne seine Zustimmung hingegeben hätte (cf. Joh. 10,18), floh er dennoch in den Armen seiner Eltern nach Ägypten (cf. Mt. 2,14). Und er zog nicht öffentlich zum Fest hinauf, sondern heimlich (cf. Joh. 7,10), während er sonst öffentlich zu den Juden redete (cf. Ib. 14,26), die darüber wutentbrannt waren und ihm mit grösster Feindseligkeit zuhörten, es aber doch nicht über sich brachten, Hand an ihn zu legen, da seine Stunde noch nicht gekommen war (ib. 30), womit nicht etwa die Stunde gemeint ist, zu der er schicksalhaft sterben musste, sondern jene Stunde, die er für den richtigen Zeitpunkt hielt, sich dem Tod auszuliefern. Derselbe Christus, der die Macht Gottes demonstrierte, indem er öffentlich lehrte und Kritik übte, es aber nicht zuliess, dass die Wut der Feinde gegen ihn etwas auszurichten vermochte (cf. Joh. 7,14-30), dieser selbe Christus erteilte mit seiner Flucht (cf. Mt. 2,14) und seinem Verheimlichen (cf. Joh. 7,10) dem Menschen in seiner Schwäche die Lehre, es nicht zu wagen, Gott auf die Probe zu stellen (cf. Deut. 6,16), wenn er sich selber zu helfen wisse, um bedrohlichen Situationen zu entkommen. Auch der Apostel Paulus hatte ja nicht seine Hoffnung auf die Hilfe und den Schutz Gottes aufgegeben und seinen Glauben verloren, als er sich in einem Korb an der Stadtmauer abseilen liess, um der Hand der Feinde zu entkommen (cf. Apg. 9,25). Er nahm also diesen Fluchtweg nicht deshalb, weil er kein Vertrauen auf Gott setzte, sondern weil er Gott versucht hätte, wenn er diese Fluchtmöglichkeit, obwohl sie ihm offenstand, abgelehnt hätte. Dasselbe lässt sich nun von Abraham sagen: da inmitten eines fremden Volkes angesichts der unübersehbaren Schönheit Saras sowohl ihre sittliche Integrität wie auch das Leben des Ehemannes in Gefahr waren, er aber nicht die Möglichkeit besass, beides zu schützen, sehr wohl aber das eine, nämlich sein Leben, tat er eben, um seinen Gott nicht zu versuchen, das, was in seiner Macht stand; was dagegen nicht in seiner Macht stand, das überliess er Gott. Da er sich als Mensch nicht verstecken konnte, versteckte er sich also, um nicht ermordet zu werden, als Ehemann; die Ehefrau aber vertraute er Gott an, damit er sie vor Beschmutzung schütze.
