27.
Sünde ist denn also jegliches Tun, Reden, Begehren, das dem ewigen Gesetz zuwiderläuft. Das ewige Gesetz aber ist die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der die natürliche Ordnung zu bewahren gebietet, sie zu stören verbietet. Es ist daher zu fragen, wie die natürliche Ordnung im Menschen aussieht. Der Mensch besteht ja nun aus Körper und Seele, doch das gilt auch für das Tier. Niemand aber bezweifelt, dass in der natürlichen Ordnung die Seele dem Körper gegenüber den Vorrang hat. Indes trägt die Seele des Menschen die Vernunft in sich, die beim Tier fehlt. Wie aber die Seele gegenüber dem Körper den Vorrang hat, so hat die Vernunft als Teil der Seele ihrerseits gemäss dem Gesetz der Natur den Vorrang gegenüber den andern Seelenteilen, die auch die Tiere besitzen; in der Vernunft wiederum, die zum einen Teil auf die geistige Schau, zum andern Teil auf das Handeln ausgerichtet ist, nimmt zweifellos die geistige Schau die Vorrangstellung ein. In ihr sind wir ja auch Bild Gottes, als das wir vom Glauben zum Schauen erneuert werden (cf. Kol. 3,10; II Kor. 5,7). Das vernunftgeleitete Handeln muss also der vernunftgeleiteten geistigen Schau zu Diensten sein, mag diese noch im Glauben wirken, wie das jetzt ist, solange wir fern vom Herrn in der Fremde wandeln (ib. 5,6), oder aber im Schauen, was dann eintreten wird, wenn wir einmal dem Herrn ähnlich sein werden, da wir ihn sehen werden, wie er ist (cf. I Joh. 3,2), und wenn wir dann auch, durch seine Gnade mit dem geistigen Leib ausgestattet, seinen Engeln gleich sein werden (cf. Mt. 22,30), nachdem wir das ursprüngliche Gewand der Unsterblichkeit und der Unvergänglichkeit empfangen haben, womit unser sterblicher und vergänglicher Leib eingekleidet sein wird, damit der Tod vom Sieg verschlungen werde (cf. I Kor. 15,53 ff.), und so die Gerechtigkeit vollendet sein wird durch die Gnade. Auch die heiligen und erhabenen Engel haben ja eine ihnen gemässe geistige Schau und das entsprechende Handeln; denn sie gebieten sich selber, das zu tun, was ihnen jener, den sie schauen, zu tun befiehlt, da sie seinem seit Ewigkeit bestehenden Befehl aus freien Stücken, weil mit Freude dienen; wir dagegen, deren Leib tot ist aufgrund der Sünde (Rm. 8,10), bis Gott auch unseren sterblichen Leib lebendig machen wird durch seinen in uns wohnenden Geist (ib. 11), wir leben nach dem bescheidenen Mass unserer Schwachheit gerecht gemäss dem ewigen Gesetz, durch das die natürliche Ordnung aufrecht erhalten wird, wenn wir aus ungeheucheltem Glauben leben (I Tim. 1,5), der in der Liebe wirksam ist (Gal. 5,6), und mit gutem Gewissen die für uns im Himmel aufbewahrte Hoffnung auf Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit und auf die Vollendung der Gerechtigkeit bis zu einer unaussprechbar beglückenden Überfülle in uns tragen, eine Hoffnung, nach der wir auf dieser Wanderung in der Fremde, solange wir im Glauben und nicht im Schauen wandeln (cf. II Kor. 5,7), hungern und dürsten müssen.
