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Nun dürfen wir aber das Urteil über den Charakter dieser sittenstrengen Männer nicht jenen überlassen, die die Tugend der Selbstbeherrschung nicht besitzen, so wenig wie wir Fieberkranke über Geschmack und Bekömmlichkeit von Speisen urteilen lassen, sondern deren Nahrung lieber nach dem Geschmacksempfinden Gesunder und nach ärztlichem Rezept als nach den Vorlieben des kranken Körpers zubereiten. Wenn also die Manichäer die Gesundung ihrer Sittlichkeit erreichen wollen, und zwar einer Sittlichkeit, die nicht vorgetäuscht und nebelhaft, sondern echt und fundiert ist, dann sollten sie die göttliche Schrift als Heilkunde verstehen und daran glauben, dass sie aus gutem Grund einigen Männern, auch wenn sie eine Vielzahl von Ehefrauen hatten, den so hohen Ehrentitel der Heiligkeit verlieh, weil nämlich der Geist als Gebieter des Fleisches mit seiner grossen Fähigkeit der Selbstbeherrschung durchaus das entscheidende Gewicht haben kann, den Geschlechtstrieb, welcher der menschlichen Natur im Hinblick auf die Fortpflanzung eingepflanzt ist, daran zu hindern, die ihm auferlegten Gesetze zu übertreten. Andernfalls könnten diese Menschen, die sich eher als verleumderische Rechtsverdreher denn als wahrheitsfindende Richter betätigen, auch die heiligen Apostel beschuldigen, das Evangelium nicht aus liebender Sorge, Kinder für das ewige Leben zu zeugen, sondern aus Gier nach menschlichem Ruhm so vielen Völkern verkündet zu haben. Denn jene Väter des Evangeliums genossen in der Tat in allen Gemeinden Christi ein glänzendes Ansehen, weil es durch das Lob so vieler Zungen verbreitet wurde; mehr noch, das Ansehen war so gewaltig gross, dass kein Mensch aus Menschenmund je grössere Ehre und grösseren Ruhm empfangen könnte (dürfte?). Nach diesem Ruhm in der Kirche strebte, von falschen Wunschvorstellungen getrieben, jener erbärmliche Simon, als er in seiner Blindheit von den Aposteln mit Geld erkaufen wollte, was jene durch göttliche Gnade und ohne eigenes Zutun geschenkt bekommen hatten (cf. Apg. 8,18,20). Gierig nach diesem Ruhm war sichtlich auch jener Mann, den der Herr, als er ihm folgen wollte, mit den Worten zurückwies (Mt. 8,20): Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel des Himmels ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen könnte. Er sah nämlich, dass jener, undurchschaubar in seiner listenreichen Verstellungskunst und aufgeplustert vor eitler Selbstüberhebung, keinen Ort des Glaubens hatte, wo er dem Lehrer der Demut eine Ruhestätte hätte bieten können, da er ja in der Gefolgschaft Christi nicht dessen Gnade, sondern den eigenen Ruhm anstrebte. An dieser Ruhmsucht krankten auch jene, die der Apostel brandmarkt, weil sie Christus aus Neid und Streitsucht, nicht mit reinem Herzen, verkündeten (cf. Phil. 1,15), wobei sich der Apostel trotz allem über ihre Verkündigung freut, da er weiss, dass auch ihre Hörer, obwohl sie selber von der Gier nach menschlichem Ruhm getrieben sind, zum Glauben geboren werden könnten (ib. 18), was allerdings nicht ihrer neiderfüllten Gier, den Ruhm der Apostel zu erreichen oder gar zu übertreffen, zuzuschreiben wäre, sondern dem Evangelium, das sie ja trotz allem, wenn auch in unreiner Absicht, verkündeten, sodass also Gott aus ihren üblen Beweggründen ein gutes Werk hervorgehen lässt. In ähnlicher Weise kommt es ja vor, dass der Mensch nicht durch den Willensentscheid, Nachkommen zu zeugen, zum Geschlechtsverkehr geführt wird, sondern sich durch die pure Gier nach sexuellem Genuss dazu hinreissen lässt, und dass trotzdem ein Mensch geboren wird, ein gutes Werk Gottes, das aus der Fruchtbarkeit des Samens, nicht aus der Sittenlosigkeit des Lasters hervorgeht. Wie sich also die heiligen Apostel nicht deshalb freuten, wenn die Zuhörer ihre Lehre mit Bewunderung aufnahmen, weil sie begierig darauf waren, Lob zu ernten, sondern weil sie von der Liebe beseelt waren, den Samen der Wahrheit auszusäen, ebenso vereinigten sich die heiligen Patriarchen nicht deshalb mit ihren Frauen zur Aufnahme des Samens, um ihre unersättliche Sinneslust zu befriedigen, sondern aus Sorge um den Weiterbestand des Geschlechts (640,15). Und deshalb spricht weder die Vielzahl der Völker für die Ehrsucht der Apostel, noch die Vielzahl der Frauen für die Lüsternheit der Patriarchen. Doch was sollen weitere Worte über diese Männer, für die doch die göttliche Stimme das vorzüglichste Zeugnis ausstellt, aus dem in aller Klarheit hervorgeht, dass es gerade ihre Ehefrauen waren (Sara Gen. 16,1 ff.; Rahel 30,1 ff.; Lea 30,9 ff.), die mit dem Geschlechtsverkehr nichts anderes bezweckten, als ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Als sie nämlich sahen, dass ihnen der Kindersegen versagt blieb, überliessen sie ihre Mägde ihren eigenen Ehemännern, um so jene zu Müttern dem Fleisch nach zu machen, und selber Mütter durch Verfügung zu werden.
