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Denn obwohl, wie ich meine, die zwei Frauen Jakobs, die dem freien Stand angehören, auf das Neue Testament hinweisen, durch das wir zur Freiheit berufen wurden, ist auch ihre Zweizahl nicht ohne Grund: vielleicht liegt er darin, - ein Gedanke, den wir in den Schriften verschiedentlich entdecken und ausgeführt finden – dass uns damit unsere zwei Leben im Leib Christi nahegebracht werden, einerseits das zeitliche Leben, in dem wir mühselig tätig sind, anderseits das ewige Leben, in dem wir uns an der Schau Gottes erfreuen werden (? Cf. civ. 7,31). Jenes Leben hat uns der Herr mit seinem Leiden, dieses mit seiner Auferstehung vor Augen geführt. Auch die Namen jener Frauen legen uns diese Deutung nahe. Man sagt ja, dass Lea mit jemand, der sich abmüht, Rachel mit Schau des Ursprungs oder Wort, durch das der Ursprung sichtbar wird übersetzt werden kann. Für das Tätigsein in diesem irdischen und vergänglichen Leben, in dem wir aus dem Glauben heraus leben und deshalb manch mühseliges Werk verrichten, ohne zu wissen, wieweit es denen zum Nutzen gereichen wird, für die wir es tun, dafür also steht Lia, die erste Frau Jakobs. Deshalb wird ja auch erwähnt (cf. Gen. 29,17), dass ihre Augen geschwächt waren, denn furchtsam sind die Gedanken der Sterblichen und hinfällig sind unsere Erwägungen (sap. 9,14). Für die erhoffte ewige Anschauung Gottes, die verbunden ist mit einem untrüglichen und freudvollen Erkennen der Wahrheit, dafür steht Rachel. Deshalb heisst es ja auch von ihr (cf. Gen. 27,17), dass sie von prächtiger Gestalt und schönem Aussehen war. Denn diese Anschauung ist die Sehnsucht eines jeden, der ehrfurchtsvoll (nach der Wahrheit) sucht, ihretwegen unterwirft er sich der Gnade Gottes, durch die unsere Sünden, und seien sie rot wie Scharlach, weiss werden wie Schnee (cf. Is. 1,18). Laban lässt sich nämlich mit Weissmachen übersetzen. Ihm aber diente Jakob um der Rachel willen (cf. Gen. 29,18. 30). Denn ein jeder, der unter der Gnade der Sündenvergebung sich bekehrt, um der Gerechtigkeit zu dienen, tut es ja mit dem Ziel, in Ruhe im Wort zu leben, aus dem der Ursprung, nämlich Gott, sichtbar wird; also tat Jakob den Dienst um der Rahel, nicht der Lea willen. Wer hätte denn je bei den Werken der Gerechtigkeit die Mühsal des Tätigseins und der Leiden geliebt? Wer hätte je dieses Leben um seiner selbst willen angestrebt? Und genauso war es bei Jakob und Lea! Als sie ihm aber nachts anstelle Rahels gebracht wurde, wohnte er ihr dennoch bei (cf. Gen. 29,23), um mit ihr Nachkommen zu zeugen, und lernte dabei ihre Fruchtbarkeit kennen. Da sie nämlich um ihrer selbst willen nicht liebenswert war, machte sie ihm der Herr zum einen dadurch erträglich, dass der Weg zu Rachel nur über sie führte, zum andern empfahl er sie durch die Aussicht auf eine reiche Nachkommenschaft. Genauso verhält es sich bei jedem wahren Diener Gottes, dem die Gnade zuteil wurde, von seinen Sünden weissgewaschen zu werden: welches andere Ziel hat er bei seiner Umkehr vor Augen gehabt als die Kenntnis der Weisheit, was anderes hat er auf dem Herzen getragen, zu was anderem fühlte er sich hingezogen? Nun glauben die meisten Menschen, sie würden unmittelbar zu dieser Kenntnis gelangen und sie in Besitz nehmen können, sobald sie nur jene sieben Gebote des Gesetzes einhielten, die sich auf die Liebe zum Nächsten beziehen, und die verbieten, irgendeinem Menschen Schaden zuzufügen, nämlich (cf. Ex. 20,12 ff.): Ehre deinen Vater und deine Mutter (12), du sollst nicht die Ehe brechen (14), du sollst nicht morden (13), du sollst nicht stehlen (15), du sollst kein falsches Zeugnis abgeben (16), du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, du sollst nicht nach dem Gut deines Nächsten verlangen (17). Wenn sich dann aber bei einem Menschen, nachdem er diese Gebote, so gut es ging, befolgt hat, anstelle des ersehnten und erhofften lustvollen Genusses jener Erkenntnis in einer bunten Reihe von Versuchungen, welche gleichsam die Nacht dieser Welt darstellen, die Erfahrung schwer zu ertragender Mühsal einstellt – als ob anstelle der Rachel wider Erwarten Lea zu ihm geführt worden wäre -, nimmt er, falls seine Liebe hartnäckig ist, auch diese Mühsal auf sich, um zu jener Erkenntnis zu gelangen, und er unterwirft sich sieben weiteren Geboten (cf. Mt. 5,3 ff.) – als ob ihm gesagt würde (cf. Gen. 29,27): Leiste sieben weitere Jahre Dienst für Rahel! –, arm zu sein im Geist, sanftmütig, trauernd, hungernd und dürstend nach Gerechtigkeit, barmherzig, reinen Herzens, friedfertig. Sicherlich möchte der Mensch, wenn das möglich wäre, ohne jegliche Erfahrung von Mühsal, die beim Tätigsein und beim Leiden zu gewärtigen ist, unmittelbar zu den Freuden der herrlichen und vollkommenen Weisheit hingelangen, das ist ihm aber im Land der Sterblichen versagt. Dies nämlich scheint das Wort zu bedeuten, das an Jakob gerichtet wurde (gen. 29,26): Es ist hierzulande nicht üblich, dass die Jüngere vor der Älteren heiratet. Es ist ja nicht unpassend, jene Sache als älter zu bezeichnen, die zeitlich vorangeht. Vorangehen muss aber bei einer richtigen Erziehung des Menschen die Anstrengung, das Gerechte zu tun, nicht die Lust, das Wahre zu erkennen.
