79.
Was lassen wir uns also zu unüberlegten Vorwürfen hinreissen! Und wenn schon, dann wenigstens gegen die Menschen, nicht gegen Gott! Zwar dienten die Sachwalter des Alten und gleichzeitig Propheten des Neuen Testaments Gott damit, dass sie Sünder umbrachten, die Sachwalter des Neuen und gleichzeitig Deuter des Alten Testaments dagegen damit, dass sie durch Sünder den Tod fanden, doch dienten beide dem einen Gott, der in gegensätzlichen, aber sich ergänzenden Zeiten lehrte, dass die zeitlichen Güter einerseits von ihm zu erbitten, anderseits seinetwegen zu verachten sind, dass zeitliche Mühsal einerseits von ihm angeordnet werden kann, anderseits seinetwegen ertragen werden muss. Was hat also Moses Grausames befohlen oder getan, wenn er, der einen heiligen Eifer für das ihm anvertraute Volk entfaltete und vom Wunsch beseelt war, dass es sich dem einen wahren Gott unterwerfe, der nun aber erkennen musste, (cf. Exod. 32,18), dass es bis zum Herstellen und Anbeten von Götzenbildern herabgesunken war und sein schamloses Herz den Dämonen prostituiert hatte, einige wenige (?) von ihnen mit dem Schwert hinrichten liess (ib. 27 f.), die doch Gott selbst, den jene beleidigt hatten, in der Tiefe und im Geheimnis seines Urteils dieser Strafe zuführen wollte, womit er für die Gegenwart einen heilsamen Schrecken auslöste, für die Zukunft aber einen unverbrüchlichen Massstab festlegte! Dass nämlich Moses das, was er tat, ohne jede Grausamkeit, vielmehr aus grosser Liebe tat, kann doch jeder aus seinen Worten erschliessen, mit denen er Fürbitte für ihre Sünde einlegte, (exod. 32,32): Wenn du ihnen die Sünde erlassen willst, erlasse sie; wenn nicht, streiche mich aus deinem Buch! Jeder vernünftige und gottesfürchtige Interpret, der jene Tötung und diese Fürbitte miteinander vergleicht, erkennt doch gleich, und er erkennt es in aller Klarheit, welch grosses Unheil es für die Seele bedeuten muss, mit Abbildern der Dämonen Unzucht zu treiben, wenn jemand, der solche Liebe besitzt, in solche Wut gerät. Ebenso klar ist, dass der Apostel nicht aus Grausamkeit, sondern aus Liebe den Menschen dem Satan auslieferte, zum Verderben seines Fleisches, damit sein Geist gerettet wird am Tag des Herrn Jesus (cf. I Kor. 5,5). Auch andere übergab er dem Satan, damit sie lernten, Gott nicht mehr zu lästern (cf. I Tim. 1,20). Nun lesen die Manichäer apokryphe Schriften, die von irgendwelchen Fabelschustern unter dem Namen der Apostel verfasst wurden, Schriften, die zur Zeit ihrer Verfasser gewiss für würdig befunden worden wären, in die autorisierte Liste der Heiligen Kirche aufgenommen zu werden, wenn die heiligen und gelehrten Männer, die damals noch auf Erden weilten und solche Erzeugnisse überprüfen konnten, ihre Aussagen als wahr erkannt hätten. Dort aber lesen sie, dass der Apostel Thomas, der als fremder und völlig unbekannter Gast an einem Hochzeitsmahl teilgenommen habe, von einem Saaldiener geohrfeigt worden sei, worauf er ihm eine sofortige und grausame Bestrafung angewünscht habe (cf. Act.Thom. 8). Und tatsächlich sei dieser dann, als er zum Brunnen hinausging, um Wasser für die Tischgesellschaft zu holen, von einem Löwen angefallen und getötet worden, und ein Hund habe darauf seine vom Körper abgetrennte Hand, mit der er das Haupt des Apostels nur leicht getroffen hatte, - immer nach dem Wortlaut jenes Apostels, der den Wunsch und die Verfluchung ausgesprochen hatte, in den Speisesaal zurückgebracht, in dem der Apostel zu Tisch lag. Könnte man sich eine grausamere Geschichte als diese ausdenken? Weil nun aber an der Stelle, wenn ich mich nicht täusche, auch noch vermerkt ist, dass der Apostel für jenen Diener Gnade im zukünftigen Leben erbeten habe, wurde die Grausamkeit mehr als kompensiert durch ihre positive Auswirkung, indem durch dieses furchterregende Ereignis einerseits jenen Menschen, die Thomas nicht kannten, deutlich gemacht wurde, in welch hohem Ansehen der Apostel bei Gott stand, anderseits für den Diener nach seinem irdischen Leben, das so oder so einmal enden würde, in alle Ewigkeit vorgesorgt war. Ob jene Geschichte wahr oder erfunden ist, interessiert mich in diesem Zusammenhang nicht. Gewiss aber zwingt sie die Manichäer, die jene aus dem kirchlichen Kanon ausgeschlossenen Schriften für wahr und unverfälscht halten, wenigstens zum Eingeständnis, dass die Tugend der Duldsamkeit, die uns der Herr mit den Worten lehrt (Mt. 5,39): Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin, in der Einstellung des Herzens sehr wohl vorhanden sein kann, auch wenn sie in den körperlichen Handlungen oder im gesprochenen Wort nicht zum Ausdruck kommt. Denn der geohrfeigte Apostel zog es ja vor, Gott zu bitten, den gewalttätigen Menschen im zukünftigen Leben zu schonen, seine Gewalttat im gegenwärtigen aber nicht ungerächt zu lassen, statt dem Schläger die andere Seite darzubieten oder ihn zu einem zweiten Schlag aufzufordern. Gewiss empfand er in seinem Innern ein Gefühl der Liebe, nach aussen aber verlangte er eine exemplarische Bestrafung. Sei die Geschichte nun wahr oder erfunden, warum wollen die Manichäer nicht glauben, dass auch Moses, der Diener Gottes, die Erbauer und Verehrer der Götzenstatue in dieser Absicht dem Schwert auslieferte (cf. Exod. 32,27), da doch auch aus seinen Worten klar genug hervorgeht, wie flehentlich er um Nachlass jener Sünde bat, sodass er gar aus dem Buch Gottes gestrichen sein wollte, wenn seine Bitte nicht erfüllt würde (ib. 32). Welch ein Unterschied übrigens zwischen einem Menschen, der als Unbekannter geohrfeigt wurde, und Gott, der das Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreite, es durch das geteilte Meer hindurchführte, die Feinde auf ihrer Verfolgung mit den Wassermassen zudeckte, und nachher zugunsten einer Götterstatue im Stich gelassen und missachtet wurde! Vergleicht man umgekehrt die Strafen, welch ein Unterschied ist es, mit dem Schwert getötet oder von wilden Tieren zerfetzt und zerfleischt zu werden! Auch die Richter, die den staatlichen Gesetzen verpflichtet sind, lassen ja gröbere Missetäter eher den wilden Tieren vorwerfen als mit dem Schwert hinrichten.
