70.
Nicht erörtern will ich an dieser Stelle, dass die Ermordung des Ägypters (cf. Exod. 2,12) zwar nicht auf Befehl Gottes geschah, jedoch aufgrund ihrer prophetischen Funktion göttlicherseits zugelassen war, um sinnbildhaft auf etwas Zukünftiges hinzuweisen, was aber hier nicht mein Thema ist. Vielmehr möchte ich jene Taten des Moses ohne jeden Bezug auf ihren Sinnbildcharakter diskutieren. Wenn ich da nun jenes ewige Gesetz zu Rate ziehe, finde ich, dass Moses, der ja keine amtliche Funktion einnahm, den Mann nicht hätte töte dürfen, mag dieser noch so gewalttätig und anmassend gewesen sein. Doch oftmals tun sich begabte und leistungsfähige Charaktere zuerst einmal durch Missetaten hervor, mit denen sie aber bereits ankündigen, in welchem Bereich sie einmal, durch die Gebote veredelt, verdienstvoll tätig sein werden. Denn wie die Bauern voraussagen können, dass ein Grundstück, auf dem sie nutzloses, aber mächtig wucherndes Unkraut spriessen sehen, sich für den Fruchtanbau eignet, und wie sie beim Anblick von Farnkraut, das doch, wie sie wissen, samt den Wurzeln ausgerissen werden muss, erkennen, dass dieses Grundstück kräftige Rebstöcke hervorbringen wird, und wie sie zweifelsfrei erkennen, dass ein Berghang, den sie mit Oleaster überwuchert sehen, für den Ölbaum geeignet ist, wenn man ihm Pflege angedeihen lässt, genauso war jener aufbrausende Charakter des Moses, - dank dem er es, ohne die Befugnisse der Amtsgewalt zu besitzen, nicht duldete, dass sein Stammesbruder in der Fremde, der von einem gewalttätigen Einheimischen verprügelt wurde, ungerächt blieb -, zwar ein durchaus geeigneter Nährboden für nutzbringende Taten, brachte aber, solange er keine Pflege erfahren hatte, erst unvollkommene, allerdings das reiche Potenzial ankündigende Talentproben hervor. Er selbst war es dann, der Moses auf dem Berg Sinai durch seinen Engel mit göttlicher Stimme dazu aufrief, das Volk Israel aus Ägypten in die Freiheit zu führen (cf. Exod. 3,10), und der ihn durch die wunderbare Erscheinung im brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch (cf. Ib. 2), und mit seinen gebieterischen Worten (cf. Ib. 5) dazu vorbereitete, die Frucht des Gehorsams zu tragen, er, der auch Saul, als dieser die Kirche verfolgte, vom Himmel aus anrief, ihn niederwarf (cf. Apg. 9,4), ihn wieder aufstehen liess (ib. 6), ihn mit seinem Geist erfüllte, ihn also gleichsam zurechtstutzte, beschnitt, einpflanzte, düngte. Denn die Grausamkeit des Paulus (cf. Ib. 9,1), mit der er, der väterlichen Tradition nacheifernd, die Kirche verfolgte, im Glauben, damit Gott einen Dienst zu erweisen, war gleichsam wildgewachsenes Unkraut, doch ein Zeichen grosser Fruchtbarkeit. Das gleiche lässt sich zu jener Tat des Petrus sagen, der seinen Herrn mit gezücktem Schwert verteidigen wollte und dem Verfolger ein Ohr abschlug (cf. Mt. 26,51), worauf ihn der Herr mit einer ziemlich heftigen Drohung zurechtwies (ib. 52): Steck das Schwert in die Scheide; denn wer das Schwert braucht, wird mit dem Schwert umkommen! Das Schwert aber braucht jener, der ohne Befehl oder Ermächtigung durch eine höhere und legitime Instanz mit Waffengewalt gegen Leib und Leben eines Mitmenschen vorgeht. Denn der Herr hatte natürlich den Jüngern befohlen, sich mit dem Schwert zu bewaffnen, er hatte ihnen aber nicht befohlen, damit zuzuschlagen. Was ist also störend daran, wenn Petrus nach diesem Fehlverhalten Hirte der Kirche geworden ist, so wie Moses nach der Erschlagung des Ägypters Anführer jener Synagoge geworden ist? Denn beide übertraten nicht aus verabscheuungswürdiger Brutalität, sondern wegen ihres unbeherrschten Charakters, der korrigierbar war, den Grundsatz des gerechten Masses, beide begingen die Sünde aus Abscheu über die Anmassung eines Dritten, der eine aus Liebe zum Bruder, der andere aus Liebe zum Herrn, einer zwar fleischlichen Liebe, aber immerhin aus Liebe. Dieser Charaktermangel ist zurechtzustutzen, oder völlig auszurotten, ein so grosses Herz aber ist sorgfältig zu pflegen, damit es gute Taten hervorbringt, so wie die Erde zu pflegen ist, damit sie Früchte hervorbringt.
